Ivan Antonovic Jefremow

Das Mädchen aus dem All (1957-58)

Wissenschaftlich–phantastischer Roman

2. DAS MÄDCHEN VOM PLANETEN DES EPSILONSTERNS IM TUKAN

Ein leises gläsernes Klingen ertönte auf dem Tisch, begleitet von orangefarbenen und blauen Funken. Über die durchsichtige Scheidewand huschten bunte Lichtflecke. Der Leiter der Außenstationen für den Großen Ring des Weltalls, Dar Veter, betrachtete die Lichter der Spiralstraße. In gigantischem Bogen wand sie sich in die Höhe und senkte sich dann hinab zum Meer, an dessen Ufer sie als mattgelber Streifen verlief.

Heute sollte sich im Leben dieses Mannes eine gewaltige Veränderung vollziehen. Am Morgen war aus dem Wohngürtel der südlichen Halbkugel Mwen Mass eingetroffen, der vom Rat für Sternenfahrt bestimmt war, seine Stelle einzunehmen. Die letzte Sendung über den Großen Ring werden sie gemeinsam durchführen, und dann… Eben dieses "dann" war noch ungeklärt.

Sechs Jahre hatte er seine Arbeit, die eine unermeßliche Anspannung erforderte, verrichtet. Nur außerordentlich befähigte Menschen mit großartigem Gedächtnis und enzyklopädischen Kenntnissen wurden dazu bestimmt. Immer häufiger jedoch wiederholten sich bei ihm Anfälle von Gleichgül–

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tigkeit gegenüber der Arbeit und dem Leben — eine der schwersten Krankheiten des Menschen.

Die berühmte Nervenärztin Ewda Nal hatte ihn untersucht. Die erprobte alte Heilmethode, Musik harmonischer, weicher Akkorde in dem von beruhigenden Strahlen erfüllten "Zimmer der blauen Träume", hatte nicht geholfen. Es blieb nichts weiter übrig, als die Tätigkeit zu wechseln und sich durch körperliche Arbeit zu heilen — dort, wo noch täglich und stündlich Muskelarbeit notwendig war. Seine liebe Freundin, die Historikerin Weda Kong, hatte ihm gestern vorgeschlagen, bei ihr als Ausgräber zu arbeiten. Bei den archäologischen Ausgrabungen konnten noch nicht alle Arbeiten von Maschinen verrichtet werden, die letzte Etappe mußten Menschenhände bewältigen. Weda hatte ihm eine lange Reise in uraltes Steppengebiet, hatte ihm unberührte Natur versprochen.

Wenn Weda Kong … aber Weda liebte Erg Noor, das Mitglied des Rates für Sternenfahrt, den Leiter der siebenundreißigsten Sternenexpedition. Erg Noor hatte schon vom Planeten Sirda Nachricht geben sollen. Sollte jedoch keine Nachricht von ihm kommen — was höchst unwahrscheinlich war, denn die Berechnungen der interstellaren Flüge waren außerordentlich präzise —, so würde dennoch jeder Versuch, Wedas Liebe zu erringen, zwecklos sein. Der Freundschaftsvektor war das Höchste, was ihn mit ihr verbinden konnte. Trotzdem würde er zu ihr zum Arbeiten fahren!

Dar Veter drückte auf einen Knopf, und helles Licht überflutete das Zimmer. Die eine Wand des sich über Erde und Meer erhebenden Raumes bildete ein Kristallfenster. Mit einer Hebelbewegung ließ Dar Veter diese Wand sich neigen, und der

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Raum öffnete sich dem Sternenhimmel, wobei er mit seinem unteren Metallrahmen die Lichter der Straßen, Gebäude und Leuchttürme an der Meeresküste abschirmte.

Das Zifferblatt der galaktischen Uhr mit den drei konzentrischen Skalenringen fesselte Dar Veters Aufmerksamkeit. Die Nachrichtensendung über den Großen Ring erfolgte jede hunderttausendstel galaktische Sekunde oder einmal in acht Tagen nach irdischer Zeitrechnung. Eine Umdrehung der Galaxis um ihre Achse entsprach einem Tag galaktischer Zeit.

Die nächste und für ihn letzte Sendung würde um neun Uhr nach der Zeit des tibetanischen Observatoriums, also hier, im Mittelmeerobservatonum des Rates, um zwei Uhr erfolgen. Bis dahin waren noch etwas mehr als zwei Stunden Zeit.

Das Gerät auf dem Tisch klingelte und flackerte erneut. Hinter der Scheidewand erschien ein Gehilfe in heller, seidig glänzender Kleidung. Er meldete kurz: "Alles ist für Sendung und Empfang bereit."

"Im kubischen Saal?" fragte Dar Veter und erkundigte sich, nachdem seine Frage bejaht worden war, wo Mwen Mass sei.

"Er erfrischt sich nach der Reise; und er scheint aufgeregt zu sein."

"Ich an seiner Stelle wäre auch aufgereg"", sagte Dar Veter nachdenklich. "Vor sechs Jahren ging es mir genauso."

Der Gehilfe hatte Mühe, seine Gefühle zurückzudrängen; vielleicht dachte er auch, daß er selbst einmal durch die Freuden und Leiden einer großen Arbeit und gewaltigen Verantwortung schreiten müsse.

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"Wenn Mwen Mass erscheint, führen Sie ihn bitte sofort zu mir."

Der Gehilfe entfernte sich. Dar Veter öffnete zwei Türflügel in der Wandtäfelung aus farbigem Holz. Licht flammte auf, das aus dem Innern eines spiegelähnlichen Bildschirmes kam.

Der Leiter der Außenstationen wählte mit Hilfe einer Spezialschaltung den Freundschaftsvektor — die direkte Verbindung zwischen eng befreundeten Menschen, damit sie sich in jedem beliebigen Augenblick erreichen konnten. Der Freundschaftsvektor verband mehrere ständige Aufenthalte: die Wohnung, den Arbeitsplatz und die Lieblingsecke für eine Ruhepause.

Der Bildschirm leuchtete auf, und in seiner Tiefe zeichneten sich die vertrauten Umrisse der hohen Wandregale mit den unzähligen Reihen von Buchfilmen mit verschlüsselten Bezeichnungen ab. Blaue, grüne, rote Streifen — die Zeichen der zentralen Filmotheken, wo die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse aufbewahrt wurden, von denen schon seit langem nur ein Dutzend Exemplare erschien. Das war Wedas persönliche Bibliothek. Ein leichtes Knacken, und das Bild verschwand. Ein anderes Zimmer leuchtete auf, ebenfalls leer. Beim nächsten Knacken übertrug das Gerät einen Saal mit schwach beleuchteten Tischen. Die am vordersten Tisch sitzende Frau hob den Kopf, und Dar Veter sah die dichten, weit auseinanderstehenden Augenbrauen und das liebliche schmale Gesicht mit den großen grauen Augen. Das Lächeln des kühn gezeichneten Mundes und die weißen Zähne machten das Gesicht noch weicher und liebenswürdiger.

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"Weda, es sind nur noch zwei Stunden. Sie müssen sich umziehen, und ich möchte, daß Sie etwas früher im Observatorium erscheinen."

Die Frau auf dem Bildschirm bog die Hände zu dem dichten aschblonden Haar. "Ich gehorche, mein Lieber", sagte sie lächelnd, "ich gehe nach Hause."

Die erzwungene Fröhlichkeit in ihrer Stimme blieb Dar Veters Ohr nicht verborgen.

"Nur Ruhe, tapfere Weda. Jeder, der über den Großen Ring spricht, hielt irgendwann einmal seine erste Rede…"

"Sie können sich Ihre ermunternden Worte sparen." Weda Kong warf eigensinnig den Kopf zurück. "Ich komme bald."

Der Bildschirm erlosch. Dar Veter schloß die Türflügel und wandte sich dem Eingang zu, um seinen Nachfolger zu begrüßen. Mwen Mass trat mit weitausholenden Schritten ein. Seine Gesichtszüge und die dunkelbraune Farbe seiner glänzenden Haut deuteten darauf hin, daß seine Vorfahren Neger gewesen waren. Ein weißer Umhang hing in schwerem Faltenwurf von seinen Schultern herab. Mwen Mass schüttelte Dar Veter kräftig die Hände. Beide Leiter der Außenstationen, der bisherige und der künftige, waren tief bewegt.

"Mir ist, als müsse heute etwas Wichtiges geschehen", begann Mwen Mass mit jener vertraulichen Offenheit, wie sie den Menschen der Ära des Großen Rings eigen war.

Dar Veter zuckte die Schultern.

"Etwas Wichtiges wird sich für uns alle ereignen. Ich werde meine Arbeit abgeben, Sie werden sie übernehmen, und Weda Kong wird zum erstenmal mit dem All sprechen. Sie wird für KRS

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664456-BS-3252 eine Lektion über unsere Geschichte halten."

Verblüffend schnell stellte Mwen Mass eine Berechnung an.

"Sternbild des Einhorns, Stern Ross 614 — ein aus alten Zeiten bekanntes Planetensystem. Ich liebe altertümliche Bezeichnungen und Ausdrücke", ergänzte er mit einem kaum merklichen Ton der Entschuldigung.

Wie gut es der Rat versteht, Menschen auszuwählen, dachte Dar Veter. Laut fügte er hinzu:

"Dann werden Sie sich mit Yuni Ant, dem Leiter der Elektronen–Gedächtnismaschinen, gut verstehen. Er selbst nennt sich Leiter der Gedächtnislampen. Nicht nach der kümmerlichen Leuchte im grauen Altertum, sondern nach den ersten plumpen Elektronenlampen aus Glas, aus denen die Luft herausgepumpt war und die den elektrischen Leuchten vor dreitausendneunhundert Jahren glichen.

Mwen Mass lachte so herzlich und offen, daß Dar Veter noch größere Sympathie für ihn empfand.

"Gedächtnislampen! Unsere Gedächtnisnetze sind kilometerlange Korridore aus Milliarden Zellenelementen! Aber da lasse ich hier meinen Gefühlen freien Lauf", sagte er, plötzlich ernst geworden, "anstatt mich über das Notwendigste zu informieren. Wann hat Ross 614 zum erstenmal gesprochen?"

"Vor zweiundfünfzig Jahren. Seit jener Zeit beherrschen sie die Sprache des Großen Rings und können mit der nächsten Umgebung sprechen. Bis zu uns sind es insgesamt vier Parsek. Wedas Lektion werden sie in dreizehn Jahren empfangen.

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Nach der Lektion schalten wir auf Empfang um. Durch unsere alten Freunde werden wir Neuigkeiten über den Ring erfahren."

"Über Schwan 61?"

"Natürlich. Manchmal auch über Schlangenträger 107, um die von Ihnen so geliebte alte Terminologie zu benutzen."

Ein Mann in der gleichen silbrig glänzenden Kleidung des Rates für Sternenfahrt, die auch Dar Veters Gehilfe trug, trat ein. Er war klein und lebhaft, hatte eine große Nase und erregte sofort durch den scharfen, forschenden Blick seiner tiefschwarzen Augen Aufmerksamkeit. Der Eingetretene fuhr sich mit der Hand über den kahlen Kopf.

"Ich bin Yuni Ant", sagte er, zu Mwen Mass gewandt, mit hoher, schriller Stimme.

Mwen Mass begrüßte ihn achtungsvoll. Die Leiter der Gedächtnismaschinen übertrafen alle übrigen Menschen an Gelehrsamkeit. Sie entschieden, welche der erhaltenen Informationen in den Gedächtnismaschinen zu verewigen und welche in die Linien der Allgemeinen Information oder zu den Palästen des Schaffens zu senden waren.

"Weda wollte etwas früher kommen", begann Dar Veter, doch seine Worte gingen in den alarmierenden musikalischen Akkorden unter, die einem hellen Klicken am Zifferblatt der galaktischen Uhr folgten.

"Das Signal für die ganze Erde", erläuterte Dar Veter. "Es gilt für alle Energiestationen, alle Betriebe, das Lichttransportwesen und die Radiostationen. In einer halben Stunde muß die gesamte Energieentnahme eingestellt werden. Die Energie wird in großen Kondensatoren gespeichert, um die für den Kosmos erforderliche Kapazität zu errei–

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chen. Für die Sendung werden dreiundsechzig Prozent der Erdenergie verbraucht."

"Genauso habe ich es mir vorgestellt", sagte Mwen Mass, zur Bekräftigung mit dem Kopf nickend. Plötzlich strahlte er vor Begeisterung.

Dar Veter sah sich um. Von ihnen unbemerkt, war Weda Kong eingetreten und stand an der durchsichtigen Leuchtsäule. Für ihren Auftritt hatte sie ihr schönstes Kleid angelegt, das in seinem Stil den Gewändern entsprach, wie sie schon vor über achttausend Jahren von Frauen im Kreterreich getragen wurden. Der schwere, hoch aufgesteckte Knoten aschblonden Haares hob die Schönheit des kräftigen schlanken Halses. Der weite, fließende Rock ließ die gebräunten Beine in roten Sandalen frei. Eine Kette aus großen, in Titan gefaßten kirschroten Steinen — Phaanten von der Venus — leuchtete auf der zarten Haut im Ton der vor Erregung geröteten Wangen.

Mwen Mass betrachtete die Geschichtswissenschaftlerin, die er zum erstenmal sah, mit unverhohlenem Entzücken.

"Sie wollten mich sprechen?" sagte Weda zu Dar Veter.

Beide traten auf die breite Ringterrasse hinaus, und Weda kehrte ihr Gesicht dem frischen Meereswind zu.

Der Leiter der Außenstationen teilte ihr mit, daß er sich entschlossen habe, zu den Ausgrabungen zu fahren; er erzählte ihr, wie schwer ihm die Wahl geworden sei zwischen der achtunddreißigsten Sternenexpedition, den antarktischen Unterwassergruben und der Archäologie.

"Oh nein, nur keine Sternenexpedition!" rief Weda. Dar Veter begriff sofort seine Taktlosigkeit.

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Mit seinen Gedanken beschäftigt, hatte er versehentlich an die wunde Stelle in Wedas Herz gerührt.

"Es ist Zeit! In einer halben Stunde schalten wir uns in den Ring ein!" Dar Veter faßte Weda Kong fürsorglich unter.

In Begleitung der andern fuhren sie mit der Rolltreppe bis tief unter die Erde und betraten einen kubischen Raum, der direkt in den Fels gehauen war.

Die matte dunkle Täfelung der Wände wirkte wie Samt. Golden, grün, hellblau und orangefarben leuchteten matt die Skalen, Zeichen und Zahlen. Die smaragdenen Spitzen der Zeiger vibrierten über den schwarzen Halbkreisen.

Mehrere Sessel, ein großer Tisch aus Ebenholz vor einem riesigen perlmuttglänzenden halbsphärischen Bildschirm in einem massiven Goldrahmen war alles, was im Zimmer stand.

Weda Kong und Mwen Mass, zum erstenmal im Observatorium der Außenstationen, blickten interessiert um sich.

Durch ein Zeichen rief Dar Veter seinen Nachfolger zu sich, während er den übrigen die hohen schwarzen Sessel zuwies. Mit verhaltenem Atem trat Mwen Mass näher. Gleich wird sich von hier aus das Fenster der Erde in die endlosen Räume des Kosmos öffnen, die Menschen werden sich durch Gedanken und Wissen mit ihren Brüdern auf anderen Welten verbinden. Jetzt stehen fünf Vertreter der Menschheit vor dem Weltall. Ab morgen werden ihm, Mwen Mass, alle Einrichtungen dieser großartigen Station anvertraut sein. Ein leichter Schauer lief ihm über den Rücken. Erst jetzt begriff er ganz, welche Verantwortung er

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übernahm, als er der Entscheidung des Rats zustimmte.

Ein lang anhaltender Ton erklang, als hätte man ein Stück massives Kupfer zum Klingen gebracht. Dar Veter drehte sich rasch um und betätigte einen Schalter. Der Ton verstummte, und Weda Kong sah die Täfelung der rechten Wand in voller Zimmerhöhe hell werden. Sie schien zu zerfließen und in grenzenloser Ferne zu verschwinden. Unten wurden die Konturen eines pyramidenförmigen Berggipfels sichtbar, den ein riesiger steinerner Ring krönte. Unterhalb dieser kolossalen Kappe festgefügten Gesteins glitzerten Flecke weißen Bergschnees.

Mwen Mass erkannte den zweithöchsten Berg Afrikas, den Kenia.

Wieder erfüllte der seltsame Ton das unterirdische Zimmer. Dar Veter nahm Mwens Hand und legte sie auf einen runden Knopf mit einem granatroten Auge. Gehorsam drehte ihn Mwen Mass bis zum Anschlag. Jetzt wurde die gesamte in den eintausendsiebenhundertsechzig riesigen Kraftwerken der Erde erzeugte Energie zum Aquator umgeleitet, zu diesem Berg von fünftausend Meter Höhe. Über seinem Gipfel wallte ein vielfarbiger Lichtschein, der plötzlich wie ein Speer senkrecht nach oben in den Himmel jagte. Einer Windhose gleich entstand über dem steinernen Ring eine feine Säule, an der sich grelleuchtende blaue Rauchspiralen in die Höhe schlängelten.

Die gelenkte Strahlung durchstieß die Atmosphäre und bildete einen ständigen Kanal zu den Außenstationen für Empfang und Sendung. Sechsunddreißigtausend Kilometer über der Erde befand sich ein Tagessatellit — eine große Station, die in

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Äquatorhöhe in vierundzwanzig Stunden einmal um den Planeten kreiste und dadurch stets über dem Kenia in Ostafrika stand. Ein anderer großer Satellit rotierte in einer Höhe von siebenundfünfzigtausend Kilometern um den neunzigsten Breitengrad und stand mit dem tibetanischen Empfangs– und Sendeobservatonum in Verbindung.

Das Licht auf der rechten Täfelung erlosch. Im gleichen Augenblick leuchtete der goldgefaßte Bildschirm auf. In seinem Zentrum erschien eine bizarr vergrößerte Figur, wurde deutlicher und lächelte mit gewaltigem Mund. Das war Gur Gan, einer der Beobachter vom Tagessatelliten. Auf dem Bildschirm war er zu einem Märchenriesen angewachsen. Er nickte fröhlich, reckte seinen drei Meter langen Arm und schaltete das Netz der Satelliten ein. Nach allen Seiten des Weltalls richteten die Empfangsgeräte ihre hochempfindlichen Fühler. Am besten wurden die Rufe des roten Sterns im Sternbild des Einhorns vom Satelliten siebenundfünfzig empfangen, und Gur Gan stellte die Verbindung zu ihm durch einen direkten Strahlungsstrom her. Der unsichtbare Kontakt der Erde mit dem Stern konnte nur eine dreiviertel Stunde dauern. Keine Minute dieser kostbaren Zeit durfte deshalb ungenutzt verlorengehen.

Dar Veter ließ Weda Kong in den blauen Metallkreis vor dem Bildschirm treten. Geräuschlos begannen die Elektronenmaschinen zu arbeiten, die Wedas Rede in die Sprache des Großen Rings übersetzten. Nach dreizehn Jahren werden die Empfänger des Planeten vom roten Stern die in den Weltraum geschickten Schwingungen in Form von allgemeingültigen Zeichen aufnehmen. Elektronen–Übersetzungsmaschinen — falls sie dort

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bestehen — werden die Zeichen in eine lebendige Sprache zurückverwandeln.

Weda Kong sprach knapp und exakt über die wesentlichen Meilensteine der Menschheitsgeschichte. Die Menschen der Ära des Großen Rings waren nicht an der Aufzählung vernichtender Kriege, furchtbarer Leiden oder großmächtiger Herrscher interessiert, wie alte Geschichtsbücher sie enthielten. Bedeutend wichtiger war die Geschichte der widerspruchsvollen Entwicklung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse und der auf ihnen basierenden Ideen, der Kunst und des Wissens, die Geschichte des Kampfes für einen wahren Menschen, der Vorstellungen über die Welt und die gesellschaftlichen Beziehungen, über die Rechte und Pflichten und das Glück des Menschen, woraus auf der ganzen Erde die mächtige kommunistische Gesellschaft erwuchs und blühte.

Alle Kräfte der Gesellschaft, die im Zeitalter des Kapitalismus für den Bau von Kriegsmaschinen, für den Unterhalt riesiger Armeen verwendet worden waren, kamen jetzt dem Aufbau des Lebens und der Entwicklung der Wissenschaft zugute.

Auf ein Zeichen von Weda Kong bediente Dar Veter einen Knopf, und neben der schönen Histonkerin wurde ein großer Globus sichtbar.

"Wir begannen"" fuhr Weda fort, "mit einer völligen Neuaufteilung der Wohn– und Industriezonen unseres Planeten. Hier diese braunen Streifen längs der dreißigsten Breitengrade auf der nördlichen und suuml;dlichen Halbkugel sind eine ununterbrochene Kette städtischer Siedlungen, die an den Küsten warmer Meere in einer milden Klimazone ohne Winter liegen. Die Bevölkerung konzen–

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trierte sich vor allern an der Wiege der Menschheitskultur — am Mittelmeer.

Nördlich dieses Wohugürtels erstreckt sich eine gigantische Zone von Wiesen und Steppen, wo ungezählte Herden von Haustieren weiden.

Der Anbau von pflanzlicher Nahrung und Nutzholz konzentriert sich auf die tropische Zone, die tausendmal günstiger dafür ist als die kalten Klimazonen.

Zu den Hauptfreuden der Menschen zählt das Reisen. Heute umspannt unseren ganzen Planeten die Spiralstraße, die durch Riesenbrücken über die Meerengen alle Kontinente miteinander verbindet." Weda fuhr mit dem Finger den Silberfaden entlang und drehte den Globus. "Auf ihr fahren in ununterbrochenem Strom Elektrozüge, und hunderttausende Menschen können sehr schnell aus der Wohnzone in die Steppen–, Feld– oder Waldzone befördert werden.

Die planvolle Gestaltung des Lebens war es schließlich, die der mörderischen Jagd nach Geschwindigkeit, dem Bau immer schnellerer Transportmaschinen ein Ende setzte. Auf der Spiralstraße fahren die Züge zweihundert Kilometer in der Stunde, noch langsamer vollzieht sich der Transport auf den Zweigstraßen. Nur in seltenen Fällen werden schnelle Flugschiffe verwandt, die tausende Kilometer in der Stunde zurücklegen.

Vor einigen Jahrhunderten haben wir das Antlitz unseres Planeten stark verändert. Die Eiskappen, die während der letzten Eiszeit an den Polen der Erde entstanden sind, haben wir beträchtlich verkleinert und damit das Klima des ganzen Planeten verändert. Der Wasserspiegel der Ozeane wurde um sieben Meter gehoben, in der Atmo–

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sphärenzirkulation wurden die Polarfronten sowie die Ringe der Passatwinde, die an der Grenze der Tropen die Wüstenzonen ausgedörrt hatten, bedeutend eingeengt.

Die warmen Steppen drangen bis zum sechzigsten Breitengrad vor, und die grünen Wiesen und Wälder der gemäßigten Zonen überschritten sogar den siebzigsten Breitengrad.

Das antarktische Festland, zur Hälfte vom Eis befreit, erwies sich als ein Hort an Bodenschätzen für die Menschheit. Noch unberührt lagen dort die Reichtümer der Berge, die auf allen anderen Kontinenten nach dem unvernünftigen Verschleiß der Metalle in den großen zerstörenden Kriegen stark ausgebeutet worden waren. Über die Antarktis gelang es auch, den Ring der Spiralstraße zu schließen.

Die Möglichkeiten zur Erzeugung von Nahrungsmitteln wuchsen um ein Vielfaches, neue Gebiete wurden bewohnbar.

Doch all das war für die Erdbevölkerung trotz ihres ständigen Anwachsens nicht mehr von zwingender Notwendigkeit. Die ersten gefährlichen und zerbrechlichen Planetenschiffe ermöglichten es ja, die nächsten Planeten unseres Systems zu erreichen. Ein Gürtel künstlicher Satelliten, von denen aus sich die Menschen mit dem Kosmos vertraut machten, umgab die Erde. Da trat vor achthundertacht Jahren ein wichtiges Ereignis ein, das eine neue Ära im Dasein der Menschheit einleitete.

Seit langem arbeitete der Geist des Menschen an der Sendung von Bildern, Lauten und Energie über weite Entfernungen. Hunderttausende hochbegabte Wissenschaftler waren in einer besonderen Organisation tätig, die bis heute noch die Aka–

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demie der gelenkten Strahlung heißt. Vor fast dreitausend Jahren stellten unsere Gelehrten fest, daß zugleich mit der Gesamtstrahlung der Gestirne und Sternensysteme auch Rufe aus dem Kosmos und Sendungen über den Großen Ring des Alls zu uns gelangten. Obwohl wir seit langem imstande waren, diese geheimnisvollen Signale einzufangen, maßen wir ihnen keinerlei Sinn bei, denn wir hielten sie für natürliche Strahlungen.

Der Wissenschaftler Kham Amat hatte den Einfall, auf künstlichen Satelliten Versuche mit Bildempfängern durchzuführen, wobei er immer neue Kombinationen von Wellenbereichen ausklügelte.

Kham Amat vermochte eine Sendung vom Plnetensystem eines Doppelsterns aufzufangen, der seit alters Schwan 61 genannt wird. Im Bildschirm zeigte sich. eine uns nicht ähnliche Gestalt, doch zweifellos ein denkendes Wesen, und wies auf eine aus den Zeichen des Großen Rings gebildete Inschrift. Erst nach neunzig Jahren vermochten wir die Inschrift zu entziffern. Heute ziert sie in unserer Erdensprache das Denkmal Kham Amat:

'Gruß euch Brüdern, die ihr in unsere Familie eingetreten seid. Von Raum und Zeit getrennt, vereinen wir uns durch den Verstand im Ring der großen Kraft.'

Die Sprache der Zeichen, Bilder und Karten des Großen Rings wurde für uns erst auf einer von der Menschheit vor nicht allzulanger Zeit erreichten Entwicklungsstufe verständlich. Zwei Jahrhunderte später konnten wir uns schon mit den Planetensystemen der nächsten Sterne unterhalten und ganze Bilder des vielfältigen Lebens der verschiedenen Welten empfangen und senden. Erst kürzlich erhielten wir Antwort von den vierzehn Plane–

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ten aus dem großen Lebenszentrum des Deneb im Sternbild des Schwans, einem Riesenstern mit viertausendachthundertfacher Sonnenleuchtkraft, der sich einhundertzweiundzwanzig Parsek von uns entfernt befindet. Die Entwicklung des Denkens hat dort eine außerordentlich hohe Stufe erreicht.

Und von den alten Welten — den kugelförmigen Anhäufungen in unserer Galaxis und dem riesigen bewohnten Gebiet um das galaktische Zentrum — kommen aus unermeßlicher Ferne seItsame Bilder und Zeichen, für uns noch unverständlich, da sie noch nicht entziffert werden können. Von Gedächtnismaschinen aufgezeichnet, werden sie an die Akademie der Grenzen des Wissens weltergeleitet. So heißt die wissenschaftliche Organisation, die an den Problemen arbeitet, die von unserer Wissenschaft gerade erst erkannt werden. Wir versuchen, die Produkte des Denkens zu entziffern das uns Millionen Jahre voraus ist, das sich auf Grund anderer Entwicklungswege des Lebens von unserem außerordentlich unterscheidet."

Weda Kong wandte sich vom Bildschirm ab, in den sie wie hypnotisiert gestarrt hatte, und warf Dar Veter einen fragenden Blick zu. Jener lächelte und nickte billigend. Weda hob stolz das Gesicht, streckte die Hände aus und wandte sich jenen Unsichtbaren und Unbekannten zu, die in dreizehn Jahren ihre Worte hören und ihre Gestalt sehen würden:

"Das ist unsere Geschichte, ein qualvoller, schwieriger und langer Weg des Aufstiegs zu den Gipfeln des Wissens. Wir rufen euch, Brüder, vereinigt euch mit uns im Großen Ring, um die ge–

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waltige Kraft der Vernunft in alle Winkeln des Alls zu tragen!"

Der Bildschirm erlosch. Auf der durchsichtigen Täfelung blieb der leuchtende Verbindungskanal mit der Außenstation.

Plötzlich begann der goldgefaßte Bildschirm wieder zu arbeiten und gab den Blick in eine ungeheure Tiefe frei.

Die zarte Stimme der Übersetzungsmaschine begann zu sprechen: "Informationsstation Schwan 61 sendet für den gelben Stern STL-3388…"

Die Wissenschaftler blickten sich an. Das war die galaktische Bezeichnung der Erde, genauer, des Sonnensystems.

"Wir haben von dem Stern … — es folgte eine Reihe Zahlen und Zeichen —, "der nicht unserem Ring angehört, außerhalb der festgelegten Zeit zufällig eine gute Sendung aufgenommen. Der Entwicklungsstand des Denkens dort ist eurem sehr ähnlich. Gebt Obacht!"

Die Maschine verstummte. Auf dem Bildschirm zeichnete sich ein heller Stern mit einem Planetensystem ab. Einer der Planeten näherte sich aus der Ferne und wurde mit jeder Sekunde größer.

Zuerst war die Oberfläche des Planeten zu erkennen, natürlich aus der Perspektive der Außenstation unseres Satelliten. Eine riesige blaßblaue, durch ihre hohe Temperatur gespenstisch wirkende Sonne überflutete mit durchdringenden Strahlen die bläuliche Wolkendecke seiner Atmosphäre.

"Das ist der Epsilonstern im Sternbild des Tukan — ein heißer Stern der Größenklasse B 9 mit achtundsiebzigfacher Sonnenleuchtkraft", flüsterte Mwen Mass.

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Dar Veter und Yuni Ant nickten bestätigend.

Das Blickfeld veränderte sich.

Runde, wie aus Kupfer gegossene Bergkuppen ragten auf, unbekannte Gesteine oder Metalle von körniger Struktur leuchteten feuerrot unter dem hellen Licht der blauen Sonne. Selbst in der unvollkommenen Wiedergabe der Geräte strahlte die unbekannte Welt in majestätischer Pracht.

Der Widerschein der Strahlen umrahmte die Konturen der Kupferberge, die sich auf den Wellen eines violetten Meeres als breite rote Straße widerspiegelten. Das amethystfarbene Wasser schien schwerflüssig und sprühte von innen heraus rote Funken, die wie eine Zusammenballung lebendiger kleiner Augen wirkten. Die Wogen umspülten den massiven Sockel einer Riesenstatue, die sich weit vom Ufer in stolzer Einsamkeit erhob. Eine aus dunkelrotem Stein gehauene weibliche Gestalt, den Kopf zurückgebogen, reckte wie in Ekstase die ausgebreiteten Arme dem flammenden Himmel entgegen. Sie konnte durchaus eine Tochter unserer Erde sein — die völlige Ähnlichkeit mit unseren Menschen und die erstaunliche Schönheit der Skulptur waren verblüffend.

Die fünf Menschen der Erde blickten atemlos auf diese neue Welt. Der breiten Brust Mwen Mass’ entrang sich ein tiefer Seufzer.

Am Ufer, der Statue gegenüber, bezeichneten gemeißelte silberne Türme den Anfang einer breiten weißen Treppe, die sich elegant über einem Hain schlanker Bäume mit türkisblauem Laub erhob.

Der optische Elektronenapparat des neuen Planeten drang aIlmählich und lautlos immer weiter vor.

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Für eine Sekunde leuchteten weiße Mauern mit breiten Vorsprüngen auf, von einem Portal aus blauem Stein durchbrochen. Dann spiegelte der Bildschirm einen hohen hellerleuchteten Saal wider. Der Perlmuttglanz der Wände, die ein strenges Ornament schmückte, ließ alles im Raum außerordentlich klar hervortreten. Eine Gruppe von Gestalten vor einer Wand aus einem gigantischen Smaragd fesselte die Aufmerksamkeit der Erdmenschen.

Das flammende Rot ihrer Haut entsprach der Farbtönung der Statue im Meer. Das war für die Erde nichts Ungewöhnliches: einige Indianerstämme Zentralamerikas besaßen — nach den erhalten gebliebenen Farbaufnahmen zu urteilen — in vergangenen Zeiten eine ebensolche Hautfarbe, wenn auch vielleicht in weniger sattem Ton.

Im Saal befanden sich zwei Frauen und zwei Männer. Beide Paare waren verschieden gekleidet. Die näher zur grünen Wand Stehenden trugen goldglänzende kurze Kombinationen, die mit Schnallen versehen waren. Die beiden anderen hatten perlmuttfarbene Gewänder an, die vom Kopf bis zu den Zehen reichten.

Die an der grünen Wand Stehenden führten rhythmische Bewegungen aus, wobei sie schräg gespannte Saiten berührten. Die Wand aus poliertem Smaragd wurde durchsichtig. Im Takt ihrer Bewegungen zogen an dem durchsichtigen Kristall klare Bilder vorüber. Sie erschienen und verschwanden so schnell, daß es selbst für so geübte Betrachter wie Yuni Ant und Dar Yeter schwer war, ihren Sinn restlos zu erfassen.

In der Aufeinanderfolge der Bilder schien die Geschichte des Planeten eingefangen. Gleich

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Phantomen zogen seltsame schöne Tier– und Pflanzenformen vorüber. Viele Tiere und Pflanzen waren jenen sehr ähnlich, deren Fossilien in den Schichten der Erdrinde gefunden worden waren. Lang erstreckte sich die aufsteigende Stufenleiter der Formen des Lebens — der sich immer mehr vervollkommnenden organischen Materie. Dieser endlos lange Entwicklungsweg schien noch länger und widersprüchlicher als der jedem Erdbewohner bekannte Entwlcklungsweg seines eigenen Werdens.

Die Bilder verblaßten, und die polierte Fläche des grünen Steins wurde wieder sichtbar.

Danach verschwanden die beiden in der goldglänzenden Kleidung aus dem Blickfeld, und das zweite Paar nahm ihren Platz ein. Mit einer schnellen Bewegung warfen sie die Umhänge ab, und auf dem Perlenhintergrund der Wände spiegelten sich die dunkelroten halbentblößten Körper. Der Mann streckte der Frau beide Hände entgegen — die antwortete ihm mit einem Lächeln von so strahlender Freude, daß die Erdbewohner vor Entzücken erstarrten. Die beiden begannen dort, im Perlensaal der fernen Welt, einen langsamen Tanz. Richtiger gesagt, war es kein Tanz, sondern eher eine rhythmische Schaustellung. Die Tanzenden wollten offenbar die Vollkommenheit und Schönheit, die plastische Geschmeidigkeit ihrer Gestalten zeigen. In der rhythmischen Folge der Bewegungen vermeinte man, eine majestätische und gleichzeitig melancholische Musik zu spüren, wie eine Erinnerung an die große Leiter der namenlosen und unzähligen Opfer der Entwicklung des Lebens, die zu einem so herrlichen Wesen, dem Menschen, geführt hat

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Die Wesen des Tukans waren den Erdmenschen so ähnlich, daß sich der Eindruck einer fremden Welt allmählich verlor. Ihre Körper jedoch waren von so vollendeter Schönheit, wie sie auf der Erde noch nicht existierte und wie sie nur in den Träumen und Schöpfungen der Künstler lebte.

Je schwieriger und länger die Evolution bis zum ersten denkenden Wesen war, desto schöner, desto zweckentsprechender sind die höchsten Lebensformen, dachte Dar Veter. Schon längst haben die Menschen der Erde begriffen, daß die Schönheit instinktiv faßbare Zweckmäßigkeit der Struktur ist, der entsprechenden Bestimmung angepaßt, Je vielseitiger die Bestimmung, desto schöner die Formen — diese roten Wesen sind wahrscheinlich noch vielseitiger und geschickter als wir.

Der Tanz wurde unterbrochen. Die junge rothäu tige Frau trat in die Mitte des Saales, und der Bildschirm konzentrierte sich auf sie allein. Ihre ausgebreiteten Arme und das Gesicht waren der Saaldecke zugewandt.

Unwillkürlich folgten die Augen der Erdbewohner ihrem Blick. Entweder hatte der Saal überhaupt keine Decke, oder aber der sich darüberspannende Sternenhimmel mit den klaren, großen Sternen war eine geschickte optische Illusion, höchstwahrscheinlich jedoch war es nur eine Darstellung. Die fremde Anordnung der Gestirne erzeugte keine bekannten Assoziationen. Die junge Frau winkte mit der Hand, und an ihrem linken Zeigefinger erglänzte eine kleine blaue Kugel. Daraus schlug wie eine lange silberne Nadel ein Strahl hervor, ein riesiger Zeigestab. Die runde Leuchtspitze am Ende des Strahls verweilte bald auf dem einen, bald auf dem anderen Stern an der

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Decke. Und gleichzeitig damit erschien auf der smaragdenen Wand ein unbewegliches, breites Panorama. Langsam wanderte die Spitze des Strahls, und ebenso langsam tauchten die Bilder unbewohnter oder mit unbekanntem Leben erfüllter Planeten auf. In bedrückender Trostlosigkeit leuchteten steinerne oder sandige Weiten unter roten, blauen, violetten oder gelben Sonnen. Die Strahlen einer merkwürdig bleigrauen Sonne hatten auf ihren Planeten glocken– und trichterförmige Lebewesen erzeugt, die wie Medusen in einer orangefarbenen Atmosphäre oder einem Ozean schwammen. In der Welt einer roten Sonne wuchsen unvorstellbar hohe Bäume mit schlüpfrig schwarzer Rinde. Sie reckten wie in auswegloser Verzweiflung Myriaden Zweige in die Höhe. Andere Planeten waren völlig von dunklem Wasser überflutet. Auf der ruhigen Wasserfläche schwammen riesige Inseln aus Tieren oder Pflanzen, die unzählige wollige Fühler regten.

"In ihrer Nähe gibt es keine Planeten mit höheren Lebensformen", sagte plötzlich Yuni Ant, der unverwandt die Bilder des unbekannten Sternenhimmels verfolgt hatte.

"Doch", widersprach Dar Veter, "auf der einen Seite von ihnen liegt ein flaches Sternensystem, einer der letzten Ausläufer der Galaxis. Wir wissen aber, daß flache und sphärische Systeme, neue und alte, einander gesetzmäßig ablösen. Und tatsächlich existiert in Richtung auf das Sternbild des Eridanus ein System mit denkenden Lebewesen, das zum Ring gehört."

"WWR-3955, EN-2528 und so weiter", warf Mwen Mass ein. "Weshalb wissen sie aber nichts davon?"

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"Zwischen ihnen und dem Eridanus muß ein für gelenkte Strahlungen undurchdringliches Feld liegen", antwortete Dar Veter.

Das rothäutige Mädchen aus der fernen Welt streifte die kleine blaue Kugel vom Finger und wandte sich mit ausgestreckten Händen den Zuschauern zu, als wollte sie jemanden umarmen.

Und wieder ließ ihre strahlende Schönheit die Menschen von der Erde wie versteinert den Atem anhalten. Auf ihrem Antlitz lag nicht die gemeißelte bronzene Strenge der rothäutigen Menschen auf der Erde; das rundliche Gesicht mit der kleinen Nase und den großen, weit auseinanderstehenden blauen Augen, mit dem kleinen Mund erinnerte eher an die nördlichen Völker der Erde. Auch das schwarze wellige Haar war nicht hart und strähnig. Jede Linie des ebenmäßigen Gesichts und Körpers atmete eine fröhliche und beschwingte Zuversicht.

"Sollten sie wirklich vom Großen Ring nichts wissen?" flüsterte Weda Kong fast stöhnend, völlig von der Anmut ihrer schönen Schwester aus dem Kosmos gebannt.

"Jetzt sicherlich", gab Dar Veter zurück. "Denn das, was wir heute sehen, geschah vor dreihundert Jahren…"

"Achtundachtzig Parsek" brummte Mwen Mass mit tiefer Stimme. "Dreihundert Lichtjahre … alle, die wir gesehen haben, sind längst tot!"

Und wie zur Bestätigung seiner Worte erlosch das Bild aus der wunderbaren Welt, verschwand auch der grüne Verbindungsanzeiger. Die Sendung über den Großen Ring war beendet.

Eine Weile verharrten alle wie versteinert. Als erster faßte sich Dar Veter. Verdrossen biß er

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sich auf die Lippen und schaltete hastig die Geräte aus. Nachdem er alle notwendigen Operationen vollzogen hatte, wandte er sich seinen Gefährten zu.

Yuni Ant überflog mit hochgezogenen Brauen die engbeschriebenen Blätter.

"Ein Teil des Gedächtnisbandes von der Sternkarte an der Decke muß sofort ins Institut für den südlichen Sternenhimmel geschickt werden!" erklärte er Dar Veters jungem Gehilfen.

Jener blickte Yuni verwundert an, als erwache er soeben aus einem ungewöhnlichen Traum. Der strenge Gelehrte verbarg ein Lächeln; glich das Geschaute nicht dem Traum von einer wunderschönen Welt?

"Sie hatten recht, Mwen Mass", sagte Dar Veter lächelnd, "indem Sie vor Beginn der Sendung erklärten, heute würde etwas Besonderes geschehen. Zum erstenmal in den achthundert Jahren unserer Verbindung mit dem Großen Ring erschien aus der Tiefe des Weltalls das Bildnis eines Planeten, dessen Bewohner nicht allein dem Geist, sondern auch der Körperbildung nach unsere Brüder sind. Und das geschah am Tage Ihres Dienstantrittes!"

Dar Veter merkte, daß ihn die ungewöhnlichen Eindrücke redselig gestimmt hatten. Unnötiger Wortschwall galt in der Ära des Großen Rings als einer der beschämendsten und widerlichsten Mängel des Menschen, und er verstummte, ohne seinen Gedanken beendet zu haben.

"Ja, ja", antwortete Mwen Mass zerstreut.

Yuni Ant spürte, daß der andere nicht ganz bei der Sache war, und stutzte. Weda Kong berührte leise Dar Veters Hand und deutete mit dem Kopf auf Mwen Mass.

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Vielleicht ist er zu empfindsam, ging es Dar Veter durch den Sinn, und er musterte eingehend seinen Nachfolger.

Mwen Mass fühlte, daß seine Freunde insgeheim über ihn befremdet waren, und er gab sich einen Ruck und war wie vorher: ein aufmerksamer und kluger Kenner seines Fachs. Die Rolltreppe brachte sie nach oben, zu den breiten Fenstern und dem Sternenhimmel, der wieder genauso fern war wie all die dreißig Jahrtausende über, seit der Mensch existierte.

Mwen Mass und Dar Veter hatten noch zu tun.

Weda Kong drückte Dar Veter noch einmal fest die Hand und flüsterte, sie werde diese Nacht niemals vergessen.

"Ich selbst kam mir so winzig vor!" sagte sie mit einem Lächeln, das ihre Worte Lügen strafte.

Dar Veter verstand, was sie meinte. Er schüttelte verneinend den Kopf.

"Ich bin überzeugt, Weda, hätte die rote Frau Sie gesehen, sie wäre stolz auf ihre Schwester… Unsere Erde ist gewiß nicht schlechter als ihre Welt!" Dar Veters Gesicht strahlte vor inniger Liebe.

"Nun ja, mit Ihren Augen, lieber Freund", gab Weda zurück. "Aber fragen Sie Mwen Mass!" Scherzend verschloß sie mit der Hand die Augen und verschwand hinter der Wand.

Lange stand Mwen Mass auf dem Balkon des Observatoriums in die Betrachtung der ihm noch unbekannten Gebäudekonturen versunken.

Ein Stück entfernt erhob sich auf einem flachen Plateau ein gigantischer Aluminiumbogen von neun parallel verlaufenden Streifenbändern durchzogen, die von cremefarbenen und silberweißen

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Plexiglasscheiben unterteilt waren — das Gebäude des Rates für Sternenfahrt. Davor stand ein Denkmal, jenen Menschen errichtet, die als erste in die Weiten des Kosmos vorgedrungen waren. Es stellte einen steilen Berg dar, der in einem Sternschiff alten Typs gipfelte — einer fischförmigen Rakete, die spitze Nase in die Höhe gerichtet. Eine Kette aufwärtsklimmender einander stützender aus Metall gegossener Figuren umwand spiralig den Denkmalsockel: Piloten von Raketenschiffen, Physiker, Astronomen, Biologen und kühne Schriftsteller phantastischer Romane. Schon färbte der erste Schimmer der Morgenröte den Rumpf des alten Sternschiffes und die schwungvollen Konturen der Gebäude. Bestürzt empfand Mwen Mass jetzt die innere Leere, die sein ganzes bisheriges Leben erfüllt hatte, ohne daß er von ihrer Existenz etwas geahnt hätte. So unerträglich stark war der Drang nach einem neuen Zusammentreffen mit dem Planeten des Epsilonsterns im Tukan, mit dieser unvergeßlichen Welt. Das Bild des rothäutigen Mädchens, ihre rufend ausgebreiteten Arme, ihren zarten halbgeöffneten Mund und ihre bezwingende Schönheit vermochte er nicht mehr aus dem Herzen zu verdrängen.

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Inhalt

1. Der eiserne Stern (5-38)
2. Das Mädchen vom Planeten des Epsilonsterns im Tukan (39-64)
3. Im Banne der Finsternis (65-104)
4. Die Sinfonie in f-Moll (105-122)
5. Die roten Wellen (123-151)
6. Die Legende der blauen Sonnen (152-180)
7. Der Rat für Sternenfahrt (181-220)
8. Der Andromedanebel (221-253)

Index

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