Mönch aus der Metropole

Am Mittwoch liest mit Viktor Pelewin einer der wichtigsten Vertreter jüngerer russischer Literatur in der Villa Ichon

Grimmig dreinzublicken scheint seine Passion. Wie das Bücherschreiben. Viktor Pelewin, geboren 1962 in Moskau, ist einer jener jungen russischen Schriftsteller, die Literatur und Russland neu definieren wollen. Kyrillische und lateinische Schriftzeichen zieren den Umschlag der deutschen Ausgabe seines jüngsten Romans. Der trägt den merkwürdigen Titel Buddhas kleiner Finger. Achtung: Hier kommt die Postmoderne! scheint’s zu schreien. Und der Eindruck trügt nicht.

Wie sein einige Jahre älterer Kollege Vladimir Sorokin arbeitet Pelewin am Mythos „Autor”. Sowie an Ikonen und Zeichen des 20. Jahrhunderts: Die Revolution, der „große vaterländische Krieg,” Lenin, Stalin, Hitler und so weiter. Aber auch an der russischen Erzähltradition, den Beschreibungen von Metropole (düster: Dostojewski) und Land (sehr weiß: Tschechow). Alles in den Mixer, bis eine Farbe herauskommt, in der nur das Groteske leuchtet. Übrig bleibt bei allen Unterschieden in der Schreibe der Beteiligten ein Dissidenzfake. Oder besser: die Texte retten das Dissidente in die postkommunistische Zeit herüber.

Buddhas kleiner Finger ist ein Moskauroman. Dramaturgisch geschickt baut Pelewin die Geschichte seines tragikomischen Helden Pjotr Pustota um einen unerklärten Zeitsprung herum. Pustota, den chronisch abgebrannten und erfolglosen Bohemien der Revolutionsjahre, finden wir plötzlich in einer psychiatrischen Einrichtung im Moskau der Gegenwart wieder. Realität und Imagination, Vergangenheit und Gegenwart bilden ein Gestrüpp, durch das man sich auch mit einer Machete kaum einen Weg bahnen kann.

Trotz oder gerade wegen der - vorsichtig gesagt - skurrilen Geschichte bereitet Buddhas kleiner Finger durch das ständige Pendeln zwischen Amüsement, Bitterkeit und Irritation Vergnügen. Postmodern, gewiss. Doch Pelewin versteht es, Post-Wörter und -Ismen in eine vordergründige Handlung zu übersetzen. Anders als die letzten Texte der Kollegen Sorokin und Jerofejew ist Buddhas kleiner Finger deutlich an der Schreibweise amerikanischer Erzähler orientiert. Darin Don DeLillo oder Thomas Pynchon ähnlich, stellt Pelewin nicht den Erzähltext als solchen in Frage. Die Irritation kommt später.

Der Flirt mit der Brigadistin Anna, die Begegnung mit der Sowjetikone Tschapajew, die in bester buddhistischer Lehrmeistermanier sich seiner annimmt: ein Traum am Ende des Jahrhunderts? Oder ist Komik, mit der der Typus des ständig in unfreiwilliger Selbstdekonstruktion befindlichen “Neuen Russen” vorgeführt wird, eine Vision am Anfang? Ein ständiges Trudeln und Kreiseln. Angereichert von Identitätskaraoke und Zeichengeballer.

Es war ein Lifestyle-Magazin, das den Autor fragte, warum es kaum Fotos von ihm gebe. „Die Literatur hat gegenüber anderen Kunstformen den Vorteil,” antwortete dieser, „dass ein Buch und ein Schriftsteller voneinander unabhängig existieren können.” Da hat er Recht, der Viktor. Trotzdem nett, dass er kommt. Punkt.

Tim Schomacker

Lesung 29.9.1999, 20 Uhr, Villa Ichon

taz Bremen Nr. 5950 vom 28.9.1999 Seite 23 Kultur 106 Zeilen Kommentar Tim Schomacker

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