Episode 54 (856-869) (549-557)

Anfang August 1945, Norddeutschland ( heutiges Mecklenburg-Vorpommern), Flüchtlinge, Bäume, Ludwig und der Lemming Ursula, Slothrops puritanische Vorfahren: Analepse William Slothrop, Neu-England, 1634-35, William Pynchon.

Flüchtlinge

Nachdem Slothrop am Ende der 50. Episode das Schiff von Frau Gnahb in Stralsund verlassen hat, mischt er sich in Tschitscherins Hosen unter die Flüchtlinge (DP’s = displaced persons), den langen Strom der Vertriebenen, ehemaligen Lagerinsassen oder Soldaten, die in die eine oder die andere Richtung unterwegs sind:
“The Nationalities are on the move. It is a great frontierless streaming out here. Volksdeutsch from across the Oder, moved out by the Poles and headed for the camp at Rostock, Poles fleeing the Lublin regime, others going back home, the eyes of both parties, when they do meet, hooded behind checkbones, eyes much older than what’s forced them into moving (…).” (857, 549)

Bäume

Bäume sind ein wichtiges Motiv für die Einbindung des Menschen in die Natur in Gravity’s Rainbow. Insofern ist der Roman, 1973 kurz vor der sogenannten “Ölkrise” erschienen, ein eminent ökologischer Roman. Slothrop entwickelt ein besonderes Interesse für Bäume, spricht sogar mit ihnen, entschuldigt sich und fragt, was er als einzelner denn tun könne.
In einer bemerkenswerten Umkehrung der binären Oppositionen von Subjekt und Objekt bekommt er von einer Kiefer als Antwort, daß er doch die örtlichen Holzfällerarbeiten sabotieren könne. In dem bemerkenswerten Aufsatz Is it O.K. to be a Luddite? (bei Spermatikos Logos Nachdruck aus: The New York Times Book Review, 28 October 1984, pp. 1, 40-41) äußert sich Pynchon zum Luddismus, der Maschinenstürmerei, ein Vorwurf, mit dem die reale Counterforce immer zu leben hatte. Der Tip, den Slothrop von der Kiefer erhält, mag ein wenig naiv sein, aber in seinem Aufsatz erinnert Pynchon mit einem Byron-Zitat die Amerikaner daran, daß sie wie die Ludditen einst einem König den Gehorsam verweigerten und daß sich jeder, der Fragen über die Auswirkungen neuer Techniken stellt, allzu leicht dem Vorwurf der Maschinenstürmerei ausgesetzt sieht:
As the Liberty lads o’er the sea
Bought their freedom, and cheaply, with blood,
So we, boys, we
Will die fighting, or live free,
And down with all kings but King Ludd!

Slothrop’s Vorfahren: die Umkehrung der
binären Oppositionen in On Preterition

Pynchon erklärt unsere heutige, zutiefst unökologische Lebensweise mit unserem puritanischen Erbe (Episode 4) und vergleicht den daraus resultierenden Todestrip der Menschheit mit dem Verhalten der Lemminge, die kollektiv Selbstmord begehen, wenn ihre Zahl ein ökologisch gesundes Maß übersteigt. Dies ist eine These, die in den 70er Jahren unter den Hippies weitverbreitet war. Ich halte sie auch heute nicht für hinlänglich widerlegt.
Slothops Vorfahr William, der seine Schweine liebte, schrieb ein langes Traktat über die logische Folge der Struktur der binären Oppositionen (und ihre Auswirkungen auf die puritanischen Paradigma), daß zwar der eine Pol in der Hierarchie über dem anderen steht, der scheinbar überlegene Pol aber nichts ohne sein Gegenteil ist, seine Identität also nur durch den unterlegenen Pol erlangt. Es ist eine gelungene Dekonstruktion der binären Oppositionen «auserwählt» und «verworfen», die Pynchon hier präsentiert. Das “second sheep” von der ersten Seite des Romans wird endlich erläutert. Ferner spielt Pynchon auf unsere enge biologische Verwandtschaft mit den Schweinen an. Überhaupt ist die gesamte Textstelle geeignet, einen zum Vegetarier werden zu lassen.
“That’s what Jesus meant,” whispers the ghost of Slothrop’s first American ancestor William, “venturing out on the Sea of Galilee. He saw it from the lemming point of view. Without the millions who had plunged and drowned, there could been no miracle.” (554)

(…) he and his son John got a pig operation going (…). William wasn’t really in it for the money as just for the trip itself (…) and most of all just being with those pigs. There were good company. Despite the folklore and the injunctions of his own Bible, William came to love their nobility and personal freedom (…) you can imagine the end of the journey. (…). Of course he took it as a parable—knew that the sqealing bloody horror at the end of the pike was in exact balance to all their happy sounds (…). It was a little early for Isaac Newton, but feelings about action andreaction were in the air. William must’ve been waiting for the one pig that wouldn’t die, that would validate all the ones who’d had to, all the Gadarene swine who’d rushed into extinction like lemmings, possessed not by demons but by trust for men, which the men kept betraying … possessed by innocence they couldn’t loose … by faith in William as another variety of pig, at home with the Earth, sharing the same gift of life.
He wrote a long tract about it presently, called On Preterition. (…). Nobody wanted to hear about all the Preterite, the many God passes over when he chooses a few for salvation. William argued holiness for these “second sheep,” without whom there’d be no elect. (…). William felt that what Jesus was for the elect, Judas Iscariot was for the preterite. Everything in the Creation has its equal and opposite counterpart. How can Jesus be an exception?” (555)

In einer Anspielung auf Robert Frosts Gedicht The Road Not Taken (1916) stellt der Erzähler die Frage, ob nicht durch Williams Häresie, hätte sie Erfolg bei den Siedlern gehabt (die ja, von einem gewissen Standpunkt aus betrachtet, beinahe allesamt Häretiker waren), die Dinge in Amerika anders gelaufen wären:
“Could he have been the fork in the road America never took, the singular point she jumped the wrong way from? Suppose the Slothropian heresy had had the time to consolidate and prosper. Might there have been fewer crimes in the name of Jesus, and more mercy in the name of Judas Iscariot?” (556)
Pynchon spielt hier auf seinen eigenen Ahnen William Pynchon an, der 1650 bei James Moxon in London ein religiöses Traktat mit dem Titel The Meritorious Price of Our Redemption verlegen ließ. Weisenburger (p. 29 und 238) und Winston (p. 308-313) berichten übereinstimmend, daß Pynchon hier satirisch seine eigene puritanische Familiengeschichte verarbeitet.
Wie William Slothrop war der eigenwillige William Pynchon der erste Pynchon auf amerikanischen Boden. Er verließ England 1630, zur Regierungszeit des später von Cromwell hingerichteten Charles I (Stuart, 1625-49), der versuchte, die absolute Monarchie in England nach dem Vorbild Ludwigs XIV. einzuführen und von 1629 bis 1640 ohne Parlament herrschte.
“Between 1628 and 1640 some 20.000 Puritans emigrated to New England to escape from a land that seemed to them doomed to revert to Catholicism.”
(A. L. Morton, p. 223)
Schon unter seinem Vater James I. (1603-25) waren 1604 Puritanismus und Katholizismus von der anglikanischen Staatskirche verdammt worden.
Episode 53 Episode 55

I Beyond the Zero II Un Perm’ au Casino Hermann Goering III In the Zone IV The Counterforce

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Professor Irwin Corey Accepts the National Book Award for Thomas Pynchon
Charles Hollander: Pynchon’s Inferno
Douglas Kløvedal Lannark: Paperware to Vaporware, The Nativity of Tyrone Slothrop
Douglas Kløvedal Lannark: Mason & Dixon: Astrological Review

© – Otto Sell – Monday, June 26, 2000.

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