Die Null in der Symbolik und in
Gravity’s Rainbow

So bliebe denn die Sonne mir im Rücken

Kathryn Hume: Binaries
Douglas Fowler: The War of the Worlds
John Barth: Zero, Kreis und Heldenschema
Die Todesdoktrin der Zone-Hereros

Zero in Part 1Zero in Part 2
Zero in Part 3Zero in Part 4

Kathryn Hume: Binaries

Jegliches menschliche Denken unterliegt dem Spiel der binären Oppositionen, das Denken und Sprechen sind ohne diese nicht denkbar, was sich in der zweigeteilten Struktur der Sprache (Signifikant und Signifikat) niederschlägt. Unter Berufung auf den Strukturalisten Edmund Leach (Genesis as Myth, New York 1973) untersucht Professor Kathryn Hume in ihrem Buch Pynchon’s Mythography: an Approach to Gravity’s Rainbow, was Pynchon in Gravity’s Rainbow mit dem Mythos macht und zeigt auf, daß wie das Kausalprinzip auch der Mythos und, da sie dem Mythos folgt, auch (fast) alle Literatur nach binären Mustern aufgebaut ist.

Das schöne am Mythos ist seine universelle Struktur, die sich in den kulturellen Artefakten aller Kulturen auf der Welt wiederholt, weil sie auf den grundlegenden binären Oppositionen wie Leben und Tod basiert, die in den alten Initialisierungsriten von symbolischem Sterben und Wiedergeburt durchgespielt wurden.

"What Leach looks for—binary oppositions, redunancies, and mediations—are technical concerns of students of myth, but in other guises they are also the concerns of students of literature. Oppositions—at least major ones—are the natural medium for dialectical exploration of values in literature."
(Hume, p. 26)
Der ewige Kampf zwischen Gut und Böse, die Gegenüberstellung von Held und Schurke/Monster und das klassische Dilemma, daß beide Alternativen, die einem Helden zur Auswahl angeboten werden (oder aber die Entdeckung der Wahrheit wie im Falle des Ödipus), ins Verderben führen, gehören zu diesen Erscheinungen in der Literatur.

Zu der These, daß unsere Mythen auf den Riten beruhen, mithin alle mythischen und klassischen Helden vergleichbar sind und strukturelle Übereinstimmungen aufweisen, sagt John Barth einiges in seinem Aufsatz: "Mystery and Tragedy – The Twin Motions of Ritual Heroism," in: The Friday Book, p. 41-53).

In der traditionellen Symbolik steht die Null zum einen für die „Nicht-Existenz, das Nicht-Sein, (…) das Fehlen jeglicher Quantität und Qualität." (J.C. Cooper, p. 218.), gleichzeitig jedoch auch für die Totalität des Lebens, da für sie auch die Symbolik des Kreises gilt. Neben dem Nicht-Sein des Todes bedeutet sie auch das Unbegrenzte, Ewige, Zeitlose. Die Null vereinigt also bereits in ihrer Symbolik einen polaren Gegensatz, nämlich Sein und Nichtsein. Die Unbegrenztheit des Nichtseins enthält die ganze Welt als ungeschaffenes Potential. Diese Universalität macht sie zu einer multifunktionalen Metapher, die dadurch eine Übergangsfunktion zwischen binären Oppositionen erlangen kann, daß sich diese in ihrer Symbolik vereinen und in ihr Gegenteil verkehren und diese Tatsache macht sich Pynchon zunutze.

Douglas Fowler: The War of the Worlds

Douglas Fowler verweist in seiner Konkordanz zu Gravity’s Rainbow vor allem auf die binären Oppositionen sowie den „Krieg der Welten," das Eindringen einer anderen Welt in unsere Welt. Er zeigt auf, wie bei Pynchon die Null eine mehrfache metaphorische Bedeutung hat. Die Zero steht einerseits für den Tod, das absolute Ende des Lebens entsprechend einer agnostischen und rationalistischen Sichtweise, andererseits aber auch für die Begrenztheit der Rationalität im besten shakespearschen Sinne, daß es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde (wieder eine binäre Opposition) gibt, als sich unsere Schulweisheit träumen läßt. An dieser Grenze endet beispielsweise auch die klassische Psychologie, vertreten durch Pavlov in der Figur des Ned Pointsman. Das Reiz-Reaktions-Schema entspricht so haargenau dem Muster einer binären Opposition und Nietzsche verwendet es als Beispiel, um anhand dieser Kausalität das Schema der binären Oppositionen überhaupt zu dekonstruieren (siehe Jonathan Culler, insb. pp. 96ff ), eine Vorgehensweise, die stets angebracht ist, wenn man sich Texten von Pynchon nähert.

Logischerweise wird aus der Zero dort, wo sie nicht das absolute Ende, sondern nur das Ende unserer Logik bedeutet, bei Pynchon zum Portal, ein Interface zu einer anderen, höher dimensionierten Welt, in der unser "space" lediglich ein "sub-space" ist. Dieses "Other Kingdom" (Pynchon steht hier in der Tradition besten "gothic horrors") befindet sich für uns "Beyond the Zero" und kann von seiner Seite leichter in unsere Welt eindringen als umgekehrt.

Von unserer Seite aus bedarf es der bekannten, herkömmlichen Vorkehrungen, um sich den Grenzbereichen der Zero zu nähern: Religion, Tod, Sex (heißt der Orgasmus nicht auch der kleine Tod?), mediale Zustände, erweiterte Wahrnehmung und Esoterik (Astrologie, Tarot) im weitesten Sinne, wozu man bei Pynchon auch ruhig die von einem mechanistischen Weltbild geprägte „an–aus" Psychologie eines Pavlov zählen darf:

"Zeroes and Ones are worked to form some of the sublest binary contrasts in Gravity’s Rainbow. Ombindi’s Empty Ones have embraced the Doctrine of the Zero, racial extinction, and they call themselves "Revolutionaries of the Zero". Blicero has designated his rocket the 00000, and Gottfried is fired due North toward 000 longitude and latitude (see 563 and 707). The V-2 firing that opens Gravity’s Rainbow impacts at Greenwich, 000 longitude, as if to indicate that the war and its weapons have suddenly passed into a new order of terror. Pointsman insists on a Pavlovian world of eithers and ors, but Mexico, the "Antipointsman," believes in "the domain between zero and one—the middle Pointsman has excluded from his persuasion" (55) and They will keep Pointsman confined in his "sterile armamentarium" of Cause and Effect where he can only possess "the zero and the one" and never find Their colossal secrets.
Nora Dodson-Truck is in love with a psychic medium, Carroll Eventyr ("he was 35 when out of the other world … someone was speaking through Eventyr … some of it was in German" (145) but she herself is an "erotic nihilist" frozen into a hopelessness Pynchon calls "the ideology of the Zero" (149); each time she finds nothing in the "„Outer Radiance," she has "taken a little more of the Zero into herself."
These are uses of Zero as a shorthand for death or for the limitations of rationality, but Pynchon also uses the term to signify an interface between our world and another. The first of the novel’s four sections is called "Beyond the Zero," and it’s epigraph, appropriately enough from V-2 high priest Wernher von Braun, speaks of the fact that "nature does not know extinction," only transformation, and that we survive in some manner" after death." This sort of captioning should alert us to Pynchon’s intention of showing us glimpses of another order of existence beyond the one that our senses and logic apprehend. Jamf had performed a classic Pavlovian experiment on the Infant Tyrone he had rented from Broderick and Nalline Slothrop, but the chemist had evidently not been able to extinguish the reflexive nexus between erection and some "Mystery Stimulus" (see Appendix III: "The Problem of Imipolex G") he had conditioned into the child’s unconscious, for Slothrop’s "rocket-dowsing" penis anticipates rocket hits on London with a precision that confounds statistical probability. Something has survived in Slothrop beyond the rational and visible, then, beyond the limits of sense and logic: Zero is here not a finality, but a portal. Behind the visible world there is an invisible one, an Other Kingdom. Beyond the Zero, past the terminations our "front–brain–faith" assures us are final, another world persists.
The intrusion of this counter–world into ours has always been at the core of Pynchon’s fiction."

(Fowler, p. 50-51)
Der Angriff auf unsere gewohnte Alltagsrealität, das Eindringen dieser fremden Realität, die Pynchon in Gravity’s Rainbow das "Other Kingdom" nennt, ist also nach Fowlers Ansicht das Kernstück der pynchonschen Fiktion. Und tatsächlich sind sowohl Oedipa Maas in The Crying of Lot 49 als auch Herbert Stencil in V. scheinbar einem großen Geheimnis auf der Spur, das zwar Einfluß auf unsere Welt hat und Spuren hinterläßt, aber nicht zu fassen ist. Alle Zeichen und Symbole verweisen jeweils nur auf andere Zeichen und Symbole. Es entsteht eine endlose Kette von Verweisen auf jeweils andere Verweise, ohne das es mögliche wäre, das Rätsel letztendlich aufzulösen..

John Barth: Zero, Kreis und Heldenschema

Wie einleitend festgestellt wurde, hat die Null teil an der Kreissymbolik und steht auch für die Totalität des Lebens. Ein weiterer Aspekt der Null– und Kreissymbolik ist der «Heldenkreis», der mythische Weg des Helden. Man macht sich gar nicht bewußt, wie viel Moses und Ödipus miteinander zu tun haben.

John Barth hat in seinem Aufsatz "Mystery and Tragedy: The Twin Motions of Ritual Heroism" ein kreisrundes Schema aufgestellt, in das Leben und Wirken aller Helden der Geschichte eingeordnet werden kann. Ausgehend von Lord Raglans Aufsatz "The Hero" von 1936, in dem eine Liste von 22 Voraussetzungen aufgestellt wird, von denen man einen Großteil erfüllen muß, um in die „heroische Bruderschaft" aufgenommen zu werden (wie Barth es in seiner typischen, etwas respektlosen Art schreibt) sowie Joseph Campbells The Hero With a Thousand Faces (New York 1949), entwickelte er ein eigenes Kreisschema, das beweist, daß so ziemlich alle Heldengeschichten in allen Kulturen nach den gleichen Mustern gestrickt sind, und daß es für einen Erzähler sogar faktisch unmöglich erscheint, sie zu vermeiden, da sie unterbewußt ablaufen:

"(…) the pattern of mythic heroism (…) seems to occur in virtually every culture of the planet (…) it’s very hard to invent any extravagant hero."
(Barth, p. 43)
Wenn man die Kriterien mehr oder weniger metaphorisch liest, kommen, so Barth, Jesus und MacArthur beide ganz gut weg, aber am meisten Punkte macht Ödipus:
1. The hero’s mother is a royal virgin;
2. His Father is a king and
3. Often a near relative of his mother, but
4. The circumstances of his conception are unusual, and
5. He is also reputed to be the son of a god.
6. At birth an attempt is made on his life, usually by his father or his maternal grandfather, but
7. He is spirited away, and
8. Reared by foster parents in a far country.
9. We are told nothing of his childhood, but
10. On reaching manhood he returns or goes to his future kingdom.
11. After a victory over a king and /or a giant , dragon, or wild beast,
12. He marries a princess, often the daughter of his predecessor, and (at about the age 34 or 35)
13. Becomes king.
14. For a time he reigns uneventfully, and
15. Prescribes laws, but
16. He later loses favor with the gods and/or his subjects and
17. Is driven from the throne or city, after which
18. He meets with a mysterious death,
19. Often at the top of a hill.
20. His children, if any, do not succeed him.
21. his body is not buried, but nevertheless
22. He has one or more holy sepulchres.

(p. 42-43)
Daß auch Pynchon sich dieser Fakten bewußt ist, beweist seine Beschreibung des Hereros Enzian als Herero-Jesus beziehungsweise Moses. Enzian ist die Frucht einer Liaison eines Herero-Mädchens mit einem russischen Seemann (Punkt 4 der Liste). In seiner frühen Jugend entging er während des Aufstandes mehrmals der Ermordung durch die Deutschen, was einen Teil seines Ruhms ausmacht (Punkt 6) und nahm schließlich an dem großen Treck der Hereros durch die Kalahari teil (Punkt 7). Nach dem Tod der meisten Teilnehmer des Trecks wurde er von Nomaden gefunden und ernährt (Punkt 8), die ihn wieder im Dorf seiner Mutter ablieferten:
"Once he could not imagine a life without return. Before his conscious memories began, something took him, in and out of his mother’s circular village far out in the Kakau Veld, at the borders of the land of death, a departure and a return. (…) Shortly after he was born, his mother brought him back to her village, back from Swakopmund. (…) Though the murderers in blue came down again and again, each time, somehow, Enzian was passed over. It is a Herod myth his admirers still like to bring up (…)." (323)
Die Gleichsetzung von Norden, Zero und Tod sowie die Macht, die darin liegt, die Sprache der Beherrschten zu bestimmen, wird im folgenden Erzählstrang um Enzians russischen Halbbruder Tschitscherin wieder aufgenommen.

Die Todesdoktrin der Zone-Hereros

Die Gleichsetzung von Zero und Tod ist auch in dem Erzählstrang um Enzian und die Zone-Hereros zu finden, nach Deutschland verschleppte Überlebende des großen Herero-Aufstandes von 1904 und deren Nachfahren, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, das zu vollenden, was General von Trotha in Südwest begonnen hatte: die Auslöschung einer ganzen Rasse. Pynchon greift hier eine Thematik wieder auf, die in dem bereits angesprochenen 9. Kapitel von V. schon weiter ausgebreitet worden ist.

Eine Gruppe unter den Hereros nennt sich selbst "The Empty Ones" (316 in Herero, 318) und "Revolutionaries of the Zero" (317), um ihre Absicht schon in der Namensgebung deutlich zu machen; ihr Programm ist rassischer Selbstmord. Dieses Ziel wurde schon in Südwestafrika von den dort überlebenden Hereros begonnen und soll jetzt von den Zone-Hereros zuende gebracht werden.

"They want a negative birth rate. The program is racial suicide. They would finish the extermination the Germans began in 1904. A generation earlier, the declining number of live Herero births was a topic of medical interest throughout southern Africa (…) Something sinister was moving out in the veld (…) there was a tribal mind at work out here, and it had chosen to commit suicide." (317)
"It was a simple choice for the Hereros, between two kinds of death: tribal death, or Christian death. Tribal death made sense, Christian death made none at all. (…)The Empty Ones can guarantee a day when the last Zone–Herero will die, a final zero to a collective history fully lived" (318)
"The people will find the Center again, the Center without time, the journey without hysteresis, where every departure is a return to the same place, the only place. … (…) The Eternal Center can easily be seen as the Final Zero. Names and methods vary, but the movement toward stillness is the same." (319)
Die Hereros teilten ursprünglich den animistischen Glauben vieler „Naturvölker," daß die verstorbenen Vorfahren nicht völlig tot sind, sondern als Geister um sie herum leben. Hier gibt es nicht die Vorstellung einer Unterteilung in "Elect" und "Preterite," in Auserwählte und Übergangene der Offenbahrung wie in der christlich-puritanischen Vorstellung, wo man nicht weiß, ob man dazugehört oder nicht. Insofern macht der Stammestod Sinn, der christliche jedoch nicht unbedingt, denn welchen Sinn soll es machen, bis zum Jüngsten Gericht in der Hölle zu schmoren, um dann doch nicht auserwählt zu sein und letztendlich sterben zu dürfen.

Pynchon setzt den Norden mit dem Tod und den Süden mit Leben gleich. Bei den Hereros werden die Toten mit dem Gesicht nach Norden begraben, um dem Tod ins Angesicht sehen zu können. Der Norden ist der Ort des Todes, der gleichzeitig mit der Farbe Weiß gleichgesetzt wird. Aus dem Norden kommt der Tod. Für die Hereros kam er in Gestalt des Generals von Trotha und seiner Leute, darunter der Offizier Weissmann (s.a. V., Kapitel 9: Mondaugens Geschichte), aus Deutschland. Weissmann ist ein überzeugter Nationalsozialist, der Enzian als Lustknaben und "Protégé" (323) mit nach Deutschland nimmt und dessen späterer SS-Codename "Blicero" ist, was ‘Der Tod’ bedeutet. Enzian weißt auf die metaphorische Kraft der Sprache hin, die Macht, die darin liegt, etwas zu benennen, ihm einen Namen zu geben:

„But we, Zone–Hereros, under the earth, how long will we wait in this north, this locus of death? Is it to be reborn? or have we really been buried for the last time, buried facing north like all the rest of our dead, and like all the holy cattle ever sacrificed to the ancestors? North is death’s region. There may be no gods, but there is a pattern: Names by themselves may have no magic, but the act of naming, the physical utterance, obeys the pattern. Nordhausen means dwellings in the north. The Rocket had to be produced out of a place called Nordhausen. The town adjoining was named Bleicheröde as a validation, a bit of redundancy so that the message would not be lost. (…) And Enzian’s found the name Bleicheröde close enough to "Blicker,” the nickname the early Germans gave to Death. They saw him white: bleaching and blankness. The name was latinized to "Dominus Blicero." Weissmann, enchanted, took it as his SS code name." (322)

In Episode 50 kann Enzian eine Abtreibung nicht verhindern, weil er (wie Slothrop stets) zu spät kommt.

Literatur

John Barth: The Friday Book or Book Titles Should Be Straightforward and Subtitles Avoided — Essays and Other Nonfiction, (1984), (with a new Afterword) The Johns Hopkins University Press, Baltimore, Maryland, The Johns Hopkins Press, London, 1997.

Douglas Fowler: A Reader’s Guide to "Gravity’s Rainbow," Ann Arbor, Michigan, 1980.

Kathryn Hume: Pynchon’s Mythography: an Approach to "Gravity’s Rainbow," Southern Illinois University Press, Carbondale and Edwardsville, 1987.


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