Michael Schardt: Fährten und verwischte Spuren

Thomas Pynchon: „Mason & Dixon”, Rowohlt Verlag, Reinbek, 1013 S., 58 DM.

Reinbek. Wer den Film „Eyes Wide Shut” von Stanley Kubrick gesehen hat, der wird vielleicht auf einem Freeway-Schild den Ort Glen Cove auf Long Island gelesen haben. Es gibt ihn also, den Ort, in dem einer der mysteriösesten und zugleich fesselndsten Schriftsteller-Gestalten Amerikas geboren worden sein soll: Thomas Pynchon. An seiner geheimnisumwitterten Biographie hat der Autor selbst mitgewirkt. Er soll 1957 bei Vladimir Nabokov einen Literaturkurs belegt haben. Kurz darauf muss Pynchon illegal ins Sekretariat der Universität eingedrungen sein und seine Immatrikulationsunterlagen und das Studentenfoto entwendet haben.

So verwischte er nach und nach alle Spuren seines Lebens, setzte eine Horde von Fans, Journalisten und Literaturwissenschaftlern auf wenig gesicherte Fährten. Er soll Jahrzehnte im Busch von Mexiko gelebt haben, von dort seine Manuskripte an den Verleger versandt haben, der den Aufenthaltsort seines Starschreibers auch nicht kannte. Von Pynchon gibt es keine gesicherten Fotos, nie trat er bei einer Lesung auf, und doch sind seine Romane so detailreich, dass sie umfangreiche Recherchen notwendig gemacht haben müssen. Der Roman „V”, der dem Autor Weltruhm einbrachte, und „Die Enden der Parabel”, als moderner „Ulysses” gefeiert, arbeiten deutsche Vergangenheit auf oder spielen zu großen Teilen in Deutschland zur Zeit des Naziregimes.

Vor drei Jahren dann kam ihm das Magazin „New Yorker” auf die Spur, als Pynchon in Manhatten ein Rockkonzert der Gruppe „Lotion” besuchte, für die er einige Songs geschrieben hatte. Diese Entmystifizierung hat dem circa 63-Jährigen aber nichts anhaben können. mit Mason & Dixon brachte er 1997 wieder einen 1000-Seiter heraus, der nun, brillant übersetzt von Nikolaus Stingl, bei Rowohlt erschienen ist.

Die Geschichte führt ins Amerika der Gründerzeit, genauer: in die Jahre 1763-1767. Charles Mason und Jeremiah Dixon, zwei Briten, der eine Astronom, der andere Landvermesser, werden nach Amerika bestellt, um eine schnurgerade Grenzlinie zu ziehen, die heute noch als Mason-Dixon-Linie bekannt ist. Diese Linie trennte die damaligen kolonialen Provinzen Pennsylvania im Norden und Maryland im Süden. Zuvor hatten zwei Familien einen über Jahrzehnte dauernden Grenzstreit geführt, der nun gütlich geschlichtet wurde.

Was hier nicht mehr als eine Regelung von Besitzansprüchen zu sein scheint, bietet den Stoff für in weitreichendes Romangeflecht. Und Pynchon wäre nicht Pynchon, wenn er das Thema Grenze nur in seiner engen topographischen oder sozialhistorischen Dimension für seinen Roman fruchtbar machen würde. Der Autor zeigt das Zeitalter der Vernunft und Aufklärung in einem nebligen Übergang, in dem diffuse Spekulation und exakte Wissenschaft nicht klar voneinander zu trennen sind, in demkonkrete Experimente neben Mesmerismus, Aberglauben neben realer Weltauffassung existieren.

Sprachlich orientiert sich Pynchon an der Diktion des 18. Jahrhunderts, wobei sich in virtuoser Weise die orthographischen, lexikalischen und idiomatischen Varianten des historischen amerikanischen Englisch mit einer modernen, an Joyce und die Beat-Literaten erinnernden Syntax überlagern. So entsteht ein aufregender Prosarhytmus, den die deutsche Fassung weitgehend wahren kann.

Mag für viele Leser der sprachliche Variantenreichtum den größten Reiz ausmachen, so können es für andere die historischen Anspielungen, Anekdoten und Geschichten sein, die über den Roman verstreut sind. Wie in allen Büchern Pynchons, so kann der Leser auch hier vielverzweigten Fährten nachspüren, die der Autor mit gleicher Sorgfalt legte wie er seine biographischen Spuren verwischte.

Nord West Zeitung, Oldenburg, Donnerstag, 17. Februar 2000 (NWZ-Nr. 40-Buch).
Set into HTML by Otto Sell, Wednesday, March 01, 2000.

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