Meister Naßr-ed-din

1.

Man sagte zum Meister: "Wie kennst du den allmächtigen Gott?"

Er antwortete: "Seit ich mich selbst kenne, geschieht alles, was der allmächtige Gott gesagt hat. Wenn die Dinge nicht in der Hand der göttlichen Allmacht ruhten, so würde auch einmal geschehen, was ich gesagt habe."

So bekannte und erklärte er mit zwei Worten das Wesen der göttlichen Macht.


2.

"Wann wird das Weltende hereinbrechen?" fragte man den Meister.

"Welches Weltende?" sagte er.

"Wieviel Weltenden giebt es denn?" fragte man.

Er erwiderte: "Wenn ich sterbe das große, wenn meine Frau stirbt das kleine."


3.

Eines Tages nahm der Verewigte seinen Esel ans Leitseil, und während er einherschritt, beschlossen einige Knaben, die gerade vorbeigingen, den Esel zu stehlen. Einer unter ihnen sagte: "Ich werde diese Sache ausführen; ihr bringt ihn sofort nach dem Markte und verkauft ihn, ohne euch um das Weitere zu kümmern," und darauf folgten sie dem Meister nach.

Nach einer Weile nahm jener Bursche vorsichtig die Halfter von dem Kopf des Esels ab und hing sie über den seinigen. Seine Gefährten aber nahmen den Esel und führten ihn auf den Markt. Und jener Schlingel mit der Halfter auf dem Kopf läuft hinter dem Meister her. Nachdem sie eine Zeitlang gelaufen, wendet der Meister seinen Kopf und sieht, daß hinter ihm her ein Mensch mit einer Halfter kommt.

Der Meister sprach: "Wer bist du?"

Jener versetzte: "Ich bin euer Esel. Ach, ursprünglich war ich ein Mensch. Eines Tages erzürnte ich meine Eltern. Sie verfluchten mich und ich wurde in einen Esel verwandelt. Zuerst wurde ich an einen Bäcker, dann an einen Gärtner verkauft. Schließlich habt Ihr mich bekommen. Während ich jetzt an eurem Leitseil lief, sahen mich meine Eltern, hatten Mitleid mit mir und erbaten den Segen für mich. So bin ich wieder ein Mensch geworden."

Darauf strich sich der Meister den Bart mit der Hand, dachte ein Weilchen nach und sagte dann: "Was du erzählt hast ist nichts Ungewöhnliches, aber es hätte nicht gerade mir passieren sollen. Geh, mein Sohn, und erzürne nicht wieder deine Eltern!" Mit diesen Worten ließ er ihn laufen.

Da aber der Meister einen Esel brauchte, so begab er sich auf den Markt, um einen zu erstehen. Er sah den Esel bei einem öffentlichen Ausrufer und sagte ihm leise ins Ohr: "Hast du wieder deinen Vater und deine Mutter geärgert?" Über diese Vorwürfe brachen die Leute auf dem Markte in schallendes Gelächter aus.


4.

Der Meister brachte seine Esel auf den Markt und übergab ihn einem Ausrufer. Ein Käufer stellte sich ein und wollte, um das Alter des Esels zu erkennen, nach seinen Zähnen sehen. Der Esel biß ihn in die Hand. Ein anderer Käufer, der sich auch einfand, wollte den Schwanz des Esels in die Höhe heben, aber der Esel schlug aus. Der Ausrufer kam hinzu und sprach: "Diesen Esel kauft niemand. Wer von vorn kommt, den beißt er, wer von hinten kommt, den schlägt er."

Der Verewigte erwiderte: "Ich habe ihn auch nicht hergebracht, um ihn zu verkaufen, sondern ich habe ihn hergebracht, damit jeder erfahren soll, was ich gelitten habe."


5.

Der Meister kaufte eines Tages eine Lunge. Unterwegs begegnete ihm einer seiner Freunde und fragte:

"Wie wirst du sie zubereiten?"

"Wie gewöhnlich," entgegnete der Meister.

"Nein," sagte jener, "es giebt eine schöne Zubereitungsart dafür. Ich will sie dir beschreiben, und danach bereite sie!"

Dann sprach der Meister:

"Was du mir da beschrieben hast, kann ich nicht im Gedächtnis behalten. Schreibe es auf ein Stück Papier! Beim Kochen will ich mich dann danach richten."

Darauf schrieb jener das Rezept auf und gab es ihm.

Während der Meister, nach der Mahlzeit lüstern, die Lunge nach Hause trug, riß ihm eine Weihe die Lunge aus der Hand und flog damit fort.

Ohne auch nur im geringsten ärgerlich zu werden, richtete der Meister das Wort an die Weihe und sagte:

"Es ist umsonst. Du kannst sie doch nicht mit Wohlgeschmack verzehren. Ich habe den Zettel."

Mit diesen Worten zeigt er der Weihe das Rezept.


6.

Eines Tages sagte die Frau des Meisters zu diesem:

"Halte das Kind, während ich diese Arbeit verrichte!"

Der Verewigte nahm das Kind auf seinen Schoß, und während er das Kind hielt, näßte es dem Meister auf den Schoß. Darauf näßte auch der Meister auf das Kind. Seine Frau sprach zornig:

"Ach, Herr, warum hast du das gethan?"

Der Verewigte antworte:

"Weib, danke Gott, dass es mein Sohn war! Wäre es ein anderer gewesen, ich hätte ihm noch Schlimmeres angethan."


7.

Man gab dem verewigten Meister ein Musikinstrument mit der Aufforderung zu spielen. Der Meister begann auf dem Instrument, so gut er konnte, zu spielen.

Man sagte:

"Wird das Instrument so gespielt? Die Musiker pflegen anfangs ein wenig umgerzugehen."

Er entgegnete:

"Sie können ihren Ton nicht finden, und um ihn zu suchen, gehen sie umher. Ich habe ihn gefunden. Wozu soll ich umhergehen?"


8.

Der Meister lief um Mitternacht auf die Straße und spazierte umher. Der Polizeimeister des Ortes begegnete ihm und sagte:

"Herr, was suchst du zur Unzeit auf der Straße?"

Der Meister antwortete:

"Mein Schlaf ist entflohen, ihn suche ich."


9.

Der Meister hatte seinen Esel verloren. Während er ihn suchte, äußerte er zugleich seinen Dank. Man fragte ihn nach dem Grund der Danksagung. Darauf sagte er:

"Ich danke, daß ich nicht dabei gewesen bin. Denn wäre ich dabei gewesen, so wäre ich auch mit verloren gegangen."


10.

Ein andermal hatte der Verewigte wieder seinen Esel verloren. Während er ihn suchte, sang er zugleich ein Lied.

Sie sagten:

"Wer seinen Esel verloren hat, der singt kein Lied, der klagt."

Da sprach der Verewigte:

"Hinter jenem Berge bleibt mir noch einige Hoffnung. Wenn ich ihn auch da nicht finden kann, dann sollt ihr mich klagen sehen."


11.

Der Verewigte hatte wiederum seinen Esel verloren. Er schrie auf dem Markte:

"Wer einen Esel gefunden haben sollte, der bringt eine frohe Botschaft mit Sattel und Zaum."


12.

Man bat den Meister um seinen Esel. Er sprach:

"Ich habe keinen."

Da fing der Esel im Stalle an zu schreien. Sie spachen:

"Man hört ja des Esels Stimme."

Darauf sagte der Meister:

"Ei, ei, ich muß mich sehr wundern, daß ihr meinen Worten keinen Glauben schenkt, während ihr doch den Worten des Esels glaubt."


13.

Um Wäsche zu waschen, verlangte des Meisters Frau Stärke. Der Meister brachte ihr eine Schüssel mit Reis. Seine Frau sprach:

"Ich habe von dir Stärke verlangt, und du bringst das, woraus man sie macht. Was soll ich damit thun?"

Er antwortete:

"He, du Dummkopf, was verstehst auch du davon; ist nicht Macht und Stärke dasselbe?"*)

*) Im Türkischen beruht das Wortspiel darauf, daß "Asche" und "Alles" homonym sind, desgleichen "Nagel" und "das Meiste".


14.

Eines Tages ging der Meister in den Keller seines Hauses und versteckte sich hinter einem großen Weinkruge. Des Verewigten Tochter trat in den Keller und sagte:

"Papa, was machst du da?"

Er sprach:

"Ach, ich habe mich vor den Händen deiner tyrannischen Mutter aus dem Vaterlande ins Exil geflüchtet."


15.

Der Meister ging ganz langsam nach dem Hause eines Vornehmen und erklärte, daß er gekommen sei, um zu betteln.

Der Besitzer des Hauses gab dem Meister etwas zu lesen und las auch selbst. Dann ließ er ihn etwas schreiben und schrieb ebenfalls. Hierauf sagte er zu dem Vereweigten:

"Siehe, du hast geschrieben, und ich habe geschrieben, du hast gelesen, und ich habe gelesen. Nunmehr hat keiner mehr von uns ein Recht, von dem anderen etwas zu fordern.

Darauf entgegnete der Meister:

"Ich bin drei Tage gelaufen, um zu dir zu kommen. Wenn du ebenfalls einen solchen Marsch gemacht hättest, dann könntest du das Recht haben, solche Worte zu äußern."


16.

Eines Tages sagte man zum Verewigten:

"Du hast vierzigjährigen Essig. Wenn du doch ein wenig hergeben wolltest!"

Er sprach:

"Wenn ich davon gegeben hätte, so würde er längst alle und nicht vierzigjährig geworden sein."


17.

Der Meister hatte neun Eier für einen Para*) gekauft und verkaufte zehn für einen Para.

"Was machst du?" fragte man. Er sagte:

"Die Freunde sollen mich im Geschäftsleben sehen."

*) Ein Para ist der vierzigste Teil eines Piasters.


18.

Der Verewigte bestieg seinen Esel und ritt nach seinem Garten. Da kam ihm ein Bedürfnis an, er zog seinen Rock aus, warf ihn über den Esel und ging, es zu befriedigen. Während dieser Zeit kam ein Kerl und stahl den Rock. Nachdem der Meister sein Geschäft beendigt hatte, kam er und sah, daß kein Rock mehr da war. Da nahm er den Sattel vom Rücken des Esels, hob ihn auf seine eigenen Schultern und sprach:

"Gieb mir meinen Rock, dann sollst du deinen Sattel wieder haben."


19.

Ein Tyrann pflegte, nachdem seiner Frau ein Unfall zugestoßen war, jedermann eine Frage vorzulegen und ihn dann zu enthaupten.

Um dieses Unglück abzuwehren, schickte man den Meister als Fürsprecher. Der Meister ging sogleich hin und sagte:

"He, du Gottloser, was willst du von den Menschen? Was bewegt dich dazu?"

Auf diese Vorwürfe entgegnete jener:

"Du sollst es sogleich erfahren."

Dann sagte er dem Meister leise ins Ohr:

"Bist du verheiratet oder ledig?"

Der Meister antwortete:

"Das ist eine sonderbare Frage. Ist ein Mann in meinem Alter ledig? Ich bin verheiratet."

Darauf versetzte jener:

"Gerade solche Leute suche ich. Auch dieser redet sich um seinen Hals."

Sogleich erwiderte der Verewigte:

"Übereile dich nicht! Frage weiter, und wir wollen sehen, ob ich die Frau verstoßen und dann wiedergenommen habe, oder ob sie gestorben ist und ich mich nochmals verheiratet habe? Was muß ich gethan haben, um gesündigt zu haben?" Hierdurch machte er den Tyrannen verstummen, und es wird erzählt, daß er auf diese Weise Amnestie erlangt habe.


20.

Eines Tages sagte die Frau des Meisters:

"Herr, wir haben zu Hause im ganzen nur eine Wasserkanne*) und bei dieser ist der Boden entzwei. Was soll ich machen?"

Der verewigte Meister antwortete:

"O Weib, was giebt’s da zu bedenken? Bisher haben wir immer zuerst unser Bedürfnis befriedigt und uns dann gewaschen. Von nun an werden wir uns immer erst waschen und dann unser Bedürfnis befriedigen."

*) Eine metallene Kanne mit langem, gebogenem Ausflußrohr, die man in jedem türkischen Closet findet, und die zum Reinigen der Hände dient. Der Meister will die Waschung vorher im Hause verrichten, so daß er die Kanne nicht mehr braucht.


21.

Eines Tages trat der Verewigte in einen Gemüsegarten. Von allem, was er da fand, riß er ein Stück heraus und füllte seinen Sack damit. Als der Gärtner es sah, entspann sich zwischen ihm und dem Verewigten folgendes Zwiegespräch:

Der Gärtner: "Was suchst du hier?"

Der Meister: "Vor kurzem wehte ein heftiger Wind. Er hat mich hierher geschleudert."

Der Gärtner: "He, wer hat das ausgerissen?"

Der Meister: "Der Wind wehte mit außerordentlicher Gewalt. Er warf mich hierhin und dorthin, und woran ich mich auch immer festhalten mochte, das blieb in meiner Hand.

Der Gärtner: "Ganz recht. Und wer hat dies in den Sack gefüllt?"

Der Meister: "Sieh mal an! Wundere du dich darüber, und auch ich will mich darüber wundern."


22.

Der Meister reiste nach Konia.*) Auf dem Markte umherschlendernd, trat er in den Laden eines Halwaverkäufers**) und begann zu essen. Der Halwaverkäufer rief:

"He, Mensch, was machst du da?" und begann auf den Meister loszuschlagen.

Der Meister aß ruhig weiter und sprach:

"Was ist das doch für ein schönes Land! Hier zwingt man die Leute mit Prügeln zum Halwaessen."

*) Siehe Seite 7 Note 4
**) Eine in der Hauptsache aus Mehl, Zucker und Butter hergestellte Speise, die besonders im Winter sehr beliebt ist.


23.

Eines Tages fing der Meister seine Hühner, wickelte jedem derselben ein Stück von einem alten Badetuche um den Kopf, band es fest und ließ sie laufen. Nach der Ursache gefragt, sagte er:

"Ihre Mutter ist gestorben, deshalb sind sie in Trauer."


24.

Ein andermal legte er selbst Trauerkleider an. Auf Befragen erklärt er:

"Der Vater meines Sohnes ist gestorben, darum bin ich in Trauer."


25.

Man sagte zum verewigten Meister:

"Da läuft eine Gans."

Er sprach:

"Was geht’s mich an?"

Man sagte:

"Sie läuft zu dir."

Er sprach:

"Was geht’s dich an?"


26.

Der Meister hatte mit irgend jemandem einen Streit und beide verfeindeten sich. Später, als jener Mann gestorben war, sagte man zum Meister:

"Komm, sprich das Telkyn*

"Jener ist erzürnt auf mich. Er wird auf meine Worte nicht hören. Schafft einen anderen herbei."

*) Die Formel: "Es giebt nur einen Gott und Mohammed ist sein Prophet", welche am Grabe eines soeben Beerdigten gesprochen wird.


27.

Als der Verewigte des Nachts mit seiner Frau zu Bett lag, sagte seine Frau:

"Herr, auf der rechten Seite steht ein Licht; zünde es an!"

"O Weib, bist du toll? Wie soll ich in der Finsternis wissen, was rechts und links ist?"


28.

Der Verewigte stieg eines Tages auf das Dach seines Hauses und verrichtete seine Notdurft auf die Straße hinab. Als aber ein Mensch erschien, brach der Meister sogleich ab.

Der Mensch sagte:

"Warum hast du abgebrochen?"

Der Meister sprach:

"Wie kann ich wissen, ob dein Erscheinen ein gutes oder böses Omen ist, ob du, wenn ich nicht abgebrochen hätte, still gehalten hättest oder heraufgestiegen wärest."


29.

Man sagte zum Verewigten:

"Deine Frau geht in dies und jenes Haus."*)

Er sprach:

"Auf diese Weise ist sie einmal in mein Hause gekommen."

*) Man wollte damit die Ehre der Frau verunglimpfen und den Meister eifersüchtig machen.


30.

Es wird erzählt, daß der verewigte Meister außer dem Kadury*) kein Buch lesen**) ließ, und daß er durch das Studium dieses Buches den Grad der Heiligkeit erworben hat. Die Barmherzigkeit Gottes sei über ihm!

Eines Tages stieg der Meister in irgend einer Moschee auf die Kanzel in der Absicht, eine Predigt zu halten. Er richtete das Wort an die versammelte Gemeinde und sprach:

"He, ihr Anwesenden, wißt***) ihr, was ich sagen werde?"

Sie sagten:

"Wie sollen wir es wissen?"

Darauf fuhr der Verewigte fort:

"Wenn ihr es doch nicht wißt, was soll ich euch sagen?"

Mit diesen Worten stieg er von der Kanzel herab.

Am folgenden Tag bestieg er wiederum die Kanzel und sprach:

"Versammelte, wißt ihr, was ich sagen werde?"

Die Gemeinde sagte:

"Wir wissen es."

Er sprach:

"Da ihr es bereits wißt, wozu soll ich es da noch unnützerweise sagen."

Damit stieg er von der Kanzel herab und entfernte sich.

Am dritten Tage bestieg er wiederum die Kanzel und fragte die Gemeinde in der beschriebenen Weise.

Die Gemeinde hatte sich vorher geeinigt und sagte diesmal:

"Einige von uns wissen es, einige wissen es nicht."

Der Meister sprach:

"Seht, das trifft sich ja prächtig! Da mögen diejenigen von euch, welche es wissen, es denjenigen lehren, welche es nicht wissen."

Damit stieg er von der Kanzel herab und ging fort.

*) Ein im Jahr 1395 von Kadury herausgegebener Auszug aus dem rhetorischen Werk "Mystah ül ülum" (Schlüssel der Wissenschaften) von Sekaki.
**) Der Meister (Chodscha) war Geistlicher und Lehrer.
***) Im Türkischen ist der Ausdruck für wissen und verstehen der nämliche.


31.

Etliche Knaben brachten einen Sack Nüsse und sprachen:

"Meister, teile diese Nüsse unter uns nach Gottes Weise!"

Der Verewigte sagte:

"Sehr wohl," und gab dem einen ein Stück, einem anderen eine Handvoll, einem dritten eine halben Sack Nüsse.

Die Knaben verwunderten sich darüber und fragten:

"Was ist das für eine Teilung?"

Er versetzte:

"So ist die Teilung nach Gottes Weise; wartet, ich will teilen nach der Art seines Knechtes!"

Damit teilte er gleichmäßig.


32.

Als der Meister auf den Markt ging, bestellten die Knaben des Viertels verschiedenes. Einer unter ihnen sagte:

"Nimm dies Geld, und bringe meinen Schuh zum Schuster; er drückt mich."

Der verewigte Meister sprach:

"Wer Geld hat, den drückt kein Schuh."*)

*) Das türkische Wortspiel, welches auf dem gleichen Ausdruck für "er hat die Flöte gespielt", "er hat die Flöte weggenommen" und "er hat bekommen, was er wünscht" beruht, ist unübersetzbar.


33.

Auf das Feld des Meisters lief ein Ochs und fraß ein gut Teil Saat ab. Der Meister ergriff den Stock, und nachdem er dem Ochsen nachgejagt, entwich der Ochs. Nach einer Woche sah der Meister, wie der Eigentümer des Ochsen diesen vor den Wagen gespannt hatte und vorbeifuhr. Der Meister nahm sogleich seinen Stock und begann, den Ochsen auf den Kopf zu schlagen.

Der Eigentümer des Ochsen sprach:

"Pfui, Mann, was willst du von meinem Ochsen?"

"Du schweig! Jener kennt seine Schuld."


34.

Als der Meister seinen Esel auf den Markt brachte, um ihn zu verkaufen, spritzte ein wenig Schmutz an des Esels Schwanz. Der Meister sprach:

"Vielleicht wird man sagen: 'Des Esels Schwanz ist schmutzig,' und wird nicht seinen vollen Wert bezahlen."

Mit diesen Worten schnitt er sogleich den Schwanz ab und steckte ihn in den Quersack. Während auf dem Markte der Auktionator den Esel umherführte, fand sich ein Käufer ein und sagte:

"Wenn dieser Esel einen Schwanz hätte, würde ich soviel Geld geben."

Der Meister, welcher diese Worte hörte, sprach:

"Schließe nur den Handel ab, der Schwanz ist leicht zu beschaffen."


35.

Der Verewigte ritt ins Gebirge, um Holz zu fällen. Während er mit dem Fällen von Holz beschäftigt war, kam ein Wolf und fraß den Esel. Ein anderer Mann sah es und begann, den Wolf zu verfolgen. Der Meister sprach:

"He Mensch, das hättest du früher thun sollen. Es ist überflüssig, daß du den Wolf, wenn er satt ist, müde machst."


36.

Der Meister ging in ein Bad. Die Badewärter gaben dem Meister ein altes Badetuch und eine schmutzige Schürze und behandelten ihn nicht sonderlich gut. Der Meister sagte kein Wort, als er aber das Bad verließ, warf er auf den Zahlspiegel zehn Asper,*) eine Summe, die in jener Zeit nur sehr reiche Leute geben konnten. Die Badewärter verwunderten sich hierüber. Eine Woche später kam der Meister wieder in das Bad. Diesmal bedienten ihn die Badewächter mit außerordentlicher Zuvorkommenheit. Der Meister sagte wieder kein Wort, und als er wegging, legte er auf den Zahlspiegel einen Asper. Die Badewärter verwunderten sich wieder und sprachen:

"Herr, was bedeutet das?"

Darauf sagte er:

"Dieser eine Asper ist die Bezahlung für das vorige Mal, die am vorigen Mal von mir gegebenen zehn Asper aber sind die Bezahlung für diesmal."

*) Ein Asper ist eine alte türkische Münze und der einhunderundzwanzigste Teil eines Piasters, der zur Zeit Naßr-ed-dins natürlich einen weit höheren Wert hatte als heutzutage.


37.

Der verewigte Meister pflanzte in seinem Garten ein ganz kleines Baumreis. Einer von seinen Freunden sah dies und sagte:

"Herr, wenn das groß sein und Früchte tragen wird, dann werdet auch Ihr den Würmern zur Speise dienen."

Der Meister entgegnete:

"Wir essen jetzt das Obst der Baumreiser, die von jenen gepflanzt wurden, die vor uns gekommen sind. Das Obst dieses sollen jene essen, die nach uns kommen."


38.

Eines Nachts erhob sich vor dem Hause des Meisters ein Streit. Der Meister wollte die Ursache desselben erfahren, nahm seine Bettdecke auf den Rücken und trat hinaus. Sogleich nahm einer der Männer die Bettdecke von seinem Rücken, lief damit fort und der Streit hörte auf. Der Meister machte kehrt und kam wieder in sein Haus. Seine Frau fragte nach der Ursache des Streites.

Da sprach der Meister:

"Der Streit ging um unsere Bettdecke. Kaum war die Decke weg, da war der Streit aus."


39.

Der Meister briet eine Gans und trug sie zum Richter. Unterwegs bekam er Hunger und aß eine Keule der Gans. So brachte er die Gans aufs Gericht und setzte sie samt der Pfanne vor den Richter hin. Der Richter fragte nach dem einen Beine der Gans. Der Meister sprach:

"Unsere Gänse haben nur ein*) Bein."

Nun befand sich vor dem Gerichtsgebäude eine Herde Gänse, die alle auf einem Bein standen, und der Meister fuhr fort:

"Wenn ihr es nicht glaubt, so seht dort."

Auf Befehl des Richters wurden die Gänse mit großen Stöcken aufgescheucht. Als nun die Gänse auf zwei Beinen vorbeiliefen, sprach der Meister zum Richter:

"Wenn Ihr diese Stöcke zu kosten bekämt, Ihr würdet vierbeinig werden."

*) Im Original steht "drei", was jedoch keinen Sinn macht.


40.

Der Meister verlor eines Tages seinen Quersack und rief öffentlich aus:

"Entweder ihr findet meinen Quersack, oder ich weiß, was ich thun werde."

Die Bewohner des Viertels suchten, und als sie den Quersack gefunden, brachten sie ihn, fragten aber dabei aus Neugierde:

"Ei, Meister, wenn wir diesen Quersack nun nicht gefunden hätten, was würdest du gethan haben?"

Der Meister sagte:

"Ja, wenn ihr ihn nicht gefunden hättet, da habe ich zuhause einen alten Sack, den hätte ich zusammengeschnürt und einen Quersack daraus gemacht."


41.

Einer von seinen Freunden wünschte vom Meister auf einige Frist etliche Piaster zu leihen. Der Verewigte sagte:

"Geld kann ich dir nicht geben. Allein du bist mein Freund, und deshalb kann ich dir soviel Frist geben, als du nur immer wünschen magst."


42.

Einer von seinen Freunden kam zum Meister und sagte:

"Schreib mir an meinen Freund in Bagdad einen Brief!"

Der Meister antwortete hierauf:

"Ich kann nicht nach Bagdad gehen."*)

*) Wir pflegen uns im Deutschen stets so unrichtig auszudrücken, als es des Meisters Freund in diesem Falle that.


43.

Der Verewigte wollte einen Stall bauen, und während er in dem zu seinem Hause gehörenden Hofe grub, deckte er ein Loch auf, welches in den daneben befindlichen Stall seines Nachbarn führte. Der Meister sah, daß es ein Stall voll Kühe war. Erfreut lief er zu seiner Frau und sprach:

"Während ich den Boden umgrub, habe ich eine Menge Rinder gefunden, die aus der Zeit der Genuesen zurückgeblieben sind. Ich verlange den Lohn für die gute Botschaft."


44.

Man verlangte vom Meister eine Wäscheleine. Der Meister ging ins Haus und sprach:

"Man hat auf der Leine Mehl ausgebreitet."

Sie sagten darauf:

"Breitet man auf einer Leine Mehl aus?"

Er antwortete:

"Wenn man keine Lust hat, sie herzugeben, so breitet man es ganz prächtig darauf aus."


45.

Der Meister legte sich am Rande eines Baches nieder und bildete sich ein, daß er gestorben sei. Reisende kamen und sprachen:

"Wenn wir nur wüßten, von wo eine Furt über diesen Bach führt!"

Während sie so einander befragten hob der Meister seinen Kopf und sagte:

"Als ich noch am Leben war, ging ich immer von dort hinüber, jetzt kann ich es nicht wissen."


46.

Man fragte den Meister:

"Der wievielte des Monats ist heute?"

Er sprach:

"Seit langer Zeit habe ich nicht mehr mit Monaten gehandelt. Ich weiß es nicht."


47.

Der Meister lehnt eine Leiter an die Mauer eines Gemüsegartens und stieg hinauf. Als er auf der Mauer war, sah ihn der Besitzer des Gartens und sagte:

"Was hast du hier zu suchen?"

"Ich verkaufe eine Leiter."


48.

Ein Mann verbarg ein Ei in seiner Hand und sagte zum Meister:

"Wenn du weißt, was ich in meiner Hand habe, so will ich dir eine Eiermehlspeise geben."

Der Meister sprach:

"Beschreibe seine Gestalt, dann weiß ich es."

Er beschrieb es mit den Worten:

"Außen weiß, innen gelb."

Darauf sagte der Meister:

"Ich wußte es, man hat eine weiße Rübe ausgehöhlt und eine gelbe Rübe hineingesteckt."


49.

Während der Meister am Ufer eines Baches die gesetzliche Waschung vornahm, fiel einer seiner Schuhe ins Wasser. Als er sah, daß das Wasser den Schuh hinwegführte, ließ er einen Seufzer fahren und sprach:

"Nimm deine Reinigung und gieb mir den Schuh wieder."


50.

Die jungen Leute des Stadtviertels luden den Meister zum Bade ein. Während sie auf dem Badestein*) saßen, trafen sie das Übereinkommen, daß ein jeder ein Ei legen solle, und wer kein Ei legen könne, der solle das Badegeld bezahlen. Nun hatten aber die jungen Leute von vorn herein jeder ein Ei mitgebracht. Als nun der Meister sah, daß alle, wie Hennen gackernd, die Eier auf den Badestein legten, da begann er sogleich sich aufzublähen und wie ein Hahn zu krähen; dann sagte er:

"Brauchen so viele Hennen etwa keinen Hahn?"

*) Ein großer, niedriger Marmorstein in der Mitte des Baderaumes, auf dem die Badegäste sitzend oder liegend plaudern und schwitzen, oder sich die Muskeln dehnen und kneten lassen.
**) Der Meister spricht von der Erdoberfläche.


51.

Ein Atheist*) kam und fragte den Meister:

"Wo ist die Mitte der Erde?"

Der Meister antwortete:

"Der Ort, auf welchen mein Fuß tritt."

Damit deutete er an, daß die Erde kugelförmig ist,**) und als der Atheist fortfuhr:

"Woraus soll ich dies erkennen?"

Da sagte der Meister:

"Wenn du es nicht glaubst, so miß!"

Hierdurch bewies er wiederum seine Überlegenheit und Klugheit.

*) Mit dem Ausdruck dehri, der hier mit Atheist wiedergegeben wurde, bezeichnet der Türke einen Mann, der alles für vergänglich hält und weder an ein göttliches Wesen, noch an ein Leben nach dem Tode glaubt.


52.

Eines Tages begab sich der Meister zu einem Feste. Allein seine Kleider waren alt, und man schenkte ihm keine Beachtung.

Der Meister ging sogleich nach Hause, wo er einen neuen Pelz***) hatte, zog diesen an und kehrte direkt nach dem Festhaus zurück. Die Veranstalter des Festes gingen dem Meister entgegen und begannen, ihn in ehrenvollster Weise zu empfangen.

Ja, man wies ihm sogar den Ehrenplatz an. Als der Meister diesen Empfang sah, begann er seinerseits seinem Pelze Komplimente zu machen. Sie sagten:

"Herr, was machst du da?"

Er antwortete:

"Die ehrenvolle Aufnahme gilt nicht mir, sondern dem Pelz."

*) Das Festgewand des Türken.


53.

Der Meister trat in ein Bad und begann vor dem Wasserbassin eine Melodie zu singen. Da ihm seine Stimme sehr gefiel,*) stieg er nach dem Bade auf ein Menareh und begann den Ruf zum Gebet**) abzusingen. Einer von den untenstehenden Leuten sprach:

"He Mensch, singt man mit so scheußlicher Stimme zur Unzeit den Ruf zum Gebet?"

Der Meister sagte:

"Ach, wie schön wäre es gewesen, wenn ein wohlthätiger Mann hier oben ein Bad hätte bauen lassen!"

Damit stieg er vom Menareh herab.


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Vorwort

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© Otto Sell — Thursday, January 18, 2007
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