Die sauberen Schweine

Pynchons Schweinefarm, Springfield, MA

“We make Ham - Exclusively”

(courtesy of Sandstede, Scheps, Ammerland, Germany)

Daß in einem nichtlinearen dynamischen System dasselbe physikalische Gesetz sowohl Ordnung als auch Chaos zu schaffen vermag, ist auch für den Nichteingeweihten verständlich — zumal der Physiker Lichtenberg diese Grundeinsicht moderner Chaosforschung auf die einprägsamste aller Formeln brachte, als er schrieb: „Es regnete so stark, daß alle Schweine rein und alle Menschen dreckig wurden.”
Damit ist der Dialog der zwei Kulturen aber in der Regel bereits beendet. Immerhin wird der Geisteswissenschaftler durch Disziplinenkontakte auf Dinge aufmerksam, die ihm ansonsten vielleicht verborgen geblieben wären. Dazu gehört auch „Chaos.”

(Wolf Lepenies, DIE ZEIT Nr. 29, 16. Juli 1993, p. 26)

The Beatles — Piggies

Have you seen the little piggies
Crawling in the dirt
And for all the little piggies
Life is getting worse
Always having dirt to play around in.

Have you seen the bigger piggies
In their starched white shirts
You will find the bigger piggies
stirring up the dirt
Always have clean shirts to play around in.

In their styles with all their backing
They don’t care what goes on around
In their eyes there’s something lacking
What they need’s a damn good whacking.

Everywhere there’s lots of piggies
Living piggie lives
You can see them out for dinner
With their piggie wifes
Clutching forks and knifes to eat their bacon.

Wir kommen nicht umhin, uns mit so unangenehmen physikalischen Dingen wie Formeln, Gesetzen, Sätzen etc. zu beschäftigen, wenn wir die Geschichte der Aufklärung sowie des 20. Jahrhunderts begreifen wollen. Und das ist Pynchon’s Oeuvre. Lichtenberg kehrt die binären Oppositionen Mensch (rein) und Schwein (dreckig) um, um das Begriffspaar Chaos und Ordnung zu erläutern. Mir schien es passend, weil auch Pynchon ähnlich arbeitet und — weil es Schweine betrifft.

Pynchons Schweinefarm, Springfield, MA

Schweine spielen in "Gravity’s Rainbow" eine große Rolle. Pynchon hat eine große Anzahl von Verweisen auf Schweine und die biologische Ähnlichkeit und Verwandschaft von Mensch und Schwein verarbeitet. Aber nicht nur das, man darf auch den gesellschaftlichen Kontext nicht vergessen, den das Wort «pig» während der Entstehungsjahre des Romans in Amerika hatte. «pigs» waren die brutalen, rassistischen amerikanischen Polizisten, die auf den Anti–Vietnam– oder Bürgerrechtsdemonstrationen die Menschen zusammenknüppelten, mit Wasserwerfern und Tränengas behandelten und mehr als ein Mal auch scharfe Munition eingesetzt hatten.

Pigs aber waren auch die Politiker. Die tatsächliche Counterforce im realen Amerika des Jahres 1968 hatte versucht, die Absurdität der Präsidentschaftswahlen dadurch offenbar zu machen, daß ein Schwein als Präsidentschaftsandidat für die Pig Nation aufgestellt wurde. In Abbie Hoffmans Buch "Woodstock Nation" heißt es in dem Kapitel: Thorns of the Flower Children:

"Once upon a time, about a generation ago, right after the thirteen–thousand–seven hundred–and sixty–fourth demonstration against the war in Vietnam, young people started to congregate in an area of San Francisco known as the Haight Ashbury. They were sick of being programmed by an educational system void of excitement, creativity and sensuality. A system that channeled human beings like so many laboratory rats with electrodes rammed up their asses into a highly mechanized maze of class rankings, degrees, careers, neon supermarkets, military–industrial complexes, suburbs, repressed sexuality, hypocrisy, ulcers and psychoanalysts. The world they came from was a world of Double Speak. A world where Lyndon Johnson and his fabulous wife Lady Bird sat in their Miami–modern ranch house, drank their bourbon, and led the nation in a marathon game of Scrabble. The victor, naturally, would donate the winnings to his or her favorite charity.

"Mah fellow pigs, this land of ours is the most peace–loving nation in the history of the world. This government stands for peace. It does not believe social change can come through violence. Oink–oink."" (p. 15-16)

In der 14. Episode erzählt Pynchon, wie die holländischen Schweine von Katjes Vorfahr Frans van der Groov Mitte des 17. Jahrhunderts die flugunfähigen Dodos (didus ineptus) auf der Insel Mauritius ausrotteten. Der ökologische Ansatz von Pynchons Roman ist ebenso unübersehbar wie seine politischen und kulturhistorischen Dimensionen. Was Pynchon an dem Beispiel der niederländischen Kolonisten auf Mauritius fasziniert hat, formuliert er im Roman; das einzige, was die fehlgeschlagene Besiedlung erreicht hatte, war die erste dokumentierte Ausrottung einer ganzen Art durch den Menschen.

In Episode 15 ist es nur eine Redewendung, die wie die meisten Redewendungen ziemlich unübersetzbar ist. Wir bringen im deutschen eigentlich unsere «Schäfchen ins trockene», wenn uns ein gutes Geschäft geglückt ist, aber das soll an dieser Stelle keine Kritik an den Übersetzern sein, dafür finde ich das Wort «Kuhhandel» für «arrangement» in diesem Zusammenhang wiederum zu gut gewählt:

"(…) the old woman’s arrangement to get her pig over the stile."(114)
"(…) so vom Kaliber des Kuhhandels, mit dem die alte Frau ihr Schwein ins trockene brachte." (185)

Der Schweinezüchter unter Tyrone Slothrops puritanischen Vorfahren, William Slothrop, dem er in seiner Verkleidung als Schweineheld Plechazunga beim „Schweineheldfest” Tribut zollt, hatte eine ganz besondere Beziehung zu seinen Tieren (Episode 54):

"William must’ve been waiting for the one pig that wouldn’t die, that would validate all the ones who’d had to, all the Gadarene swine who’d rushed into extinction like lemmings, possessed not by demons but by trust for men, which the men kept betraying . . . possessed by innocence they couldn’t loose . . . by faith in William as another variety of pig, at home with the Earth, sharing the same gift of life."

In Episode 57 trifft Tyrone Slothrop auf Frieda, das Schwein, zu dem Franz Pöckler eine ganz besondere Beziehung aufgebaut hat.

"A pig is a jolly companion,
Boar, sow, barrow, or gilt—
A pig is a pal, who’ll boost your morale,
Though mountains may topple and tilt.
When they’ve blackballed, bamboozled, and burned you,
When they’ve turned on you, Tory and Whig,
Though you may be thrown over Tabby or Rover,
You’ll never go wrong with a pig, a pig,
You’ll never go wrong with a pig!" (575)

Jules Siegel berichtet, daß Pynchon Ende 1966 oder Anfang 1967 (eine eindeutige zeitliche Festlegung vermeidet Siegel oder ist zumindest seinem Artikel nicht zu entnehmen) in einer umgebauten Garage in zwei Zimmern lebte, wo es außer einer großen Menge von Büchern über Schweine nicht viel gab. Eines dieser Bücher könnte David Coopers Der Tod der Familie (1971) gewesen sein, dessen fünftes Kapitel Mästen sie ihr Schwein (64-69) heißt:

„Natürlich sind Menschen Schweine. Und menschliche Institutionen sind natürlich Schweineställe oder Schweineproduktionsfarmen oder Schlachthäuser für Schweine. (…) Es ist sicher kein Zufall, daß junge amerikanische Revolutionäre die Polizei und ihre Kollaborateure, die Psychiater, sowie die verlogene Obrigkeit überhaupt als «pigs» (Scheine) bezeichnen. Das Schwein ist eine eindeutige Identifizierung. Jener andere Ausdruck, «mother–fucker» (Mutterficker), ist insofern doppeldeutiger, als er entweder die Beschränkung der eigenen Sexualität auf die eigene Mutter oder eine Befreiung von Inzesttabus bedeuten kann. Trotz seines Kannibalismus ist das Schwein das anal–genital einladenste Tier der Welt. Allen, die da kommen, reckt es sein Arschloch mit der vorstehenden analen Unterlippe entgegen. Wenn wir diese Einladung zur sexuellen Vermischung erkennen, können wir vielleicht einen Ausweg finden aus unseren viehischen Verhaltensweisen anderen gegenüber. (…)

Wenn Schweine Flügel hätten, wie ein altes englisches Sprichwort sagt, wäre alles möglich. Aber vielleicht haben Schweine wirklich geheimnisvolle, unsichtbare Flügel, und vielleicht sehen wir diese Flügel nicht, WEIL wir Angst haben, «alles könnte möglich werden».
(Cooper, p. 65-65)

Daß das Schwein einen so sprichwörtlich schlechten Ruf bei den Menschen hat (für die Moslems ist es unrein) ist eigentlich unverständlich. Neben der Bedeutung als Nahrungsquelle für den nicht–moslemischen Teil der Menschheit teilen Schwein und Mensch eine Menge genetischer Eigenschaften, der Stoffwechsel ist so ähnlich, daß das Schwein das bevorzugte Spendertier für die Xenotransplantation ist, die Übertragung von Organen anderer Arten auf den Menschen. Pynchons Behandlung des Themas Schwein und Mensch ist dazu angetan, diese edle Tier mit anderen Augen zu betrachten.

Schon Thomas Pynchons Vorfahren hatten es mit Schweinen, insbesondere Mr. John Pynchon, dessen Erfahrungen mit der Schweinezucht in der Chronik der puritanischen Gemeinde Springfield, Massachusetts berichtet werden:

"In 1656 John Pynchon set out on a pork–raising speculation, on Freshwater river, now in Enfield, Conn. – at that time within the jurisdiction of Massachusetts. He procured a grant of land, 20 acres for himself and 10 acres for George Colton and Benjamin Cooley. When granted it was with the agreement that "if they doe not make use of it themselves it is to return into the Townes hands agayne – they are not to sell it to any other."

The sequel was not recorded until October 8, 1660, when it appeared that Cooley had with–drawn, Pynchon taking his portion. The record give the conditions and the results:

"According to order by the Selectmen there was granted parsell of land at fresh water brooke, to Mr. Pynchon, George Colton and Benjamin Cooley, in proportion as they carry on their design of keeping swine there. In all forty acres of upland, ten acres to each quarter part, and thisupon conditon that they doe within two years carry on the design of keeping swine there. If they fail in carrying on that design within two years, or such of them doe faile, they forfeit the land & it remains to the other or them that do keep swine there; or else falls to the town, if none carry on that design of keeping swine. The design of keeping swine there was accordingly caryed on & within the tyme limited, and continued until Windsor corne fields eat up ye swine."

This quotation is in the handwriting of John Pynchon, and what he probably intended to say was that the swine ran out of the Enfield woods, in which they were fattening on acorns, and other nuts, into the Windsor corn–fields and ate so much that they consequently died from the effects and not by being eaten up by the fields."

The First Century of the History of Springfield. The Official Records from 1636 to 1736, pp 59–60.

Eine interessante, typisch pynchon’sche Umkehrung, die Mr. John Pynchon da gebraucht.


Literatur

David Cooper: Der Tod der Familie, Rowohlt, Das Neue Buch, Reinbek bei Hamburg 1972, orig. The Death of the Family, Allan Lane The Penguin Press, London 1971.

Abbie Hoffman – Woodstock Nation A Talk–Rock Album – 1969, Pocket Books, New York 1971.

Rocco und Antonia: Schweine mit Flügeln Sex + Politik. Ein Tagebuch, Rowohlt Verlag, Reinbek 1977.

Siegel, Jules: "Who Is Thomas Pynchon … And Why Did He Take Off With My Wife?" Playboy (american edition), March 1977, 97, 122, 168-70, 172, 174.

Links

Max P. Haering — Die sauberen Schweine
Zeichnung zu "Die Enden der Parabel" (Gravity’s Rainbow) von Thomas Pynchon Seite 866: "Natürlich sah er es als eine Parabel – er wusste, dass das quiekende, blutige Entsetzen am Ende des Weges im genauen Gleichgewicht stand mit ihrem glücklichen Grunzen..."

The First Century of the History of Springfield. The Official Records from 1636 to 1736. With an Historical Review and Biographical Mention of the Founders. By Henry M. Burt. Volume I, Springfield, Massachusetts. Printed and Published by Henry M. Burt, 1898

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