Episode 39 (612-620) (392-397)

later the same day, Greta Erdmann, Singularities (396)

Greta Erdmann

Auch diese Episode beginnt mit dem Erwachen und Traumbildern (wie auch die erste Episode. Slothrop hat das Sodium Amytal überstanden, das Tchitcherine ihm verpaßt hat, und erinnert sich an Tschitcherins Verhör wie an einen undeutlichen Traum. Er trifft Margherita (Greta) Erdmann in den UFA–Filmstudios von Neubabelsberg. Die Erdmann hatte stets die Opferrolle in den pornographischen Horrorfilmen Gerhardt von Gölls inne, aber war kein Star wie Fay Wray (King Kong), Marlene Dietrich (Der Blaue Engel) oder Brigitte Helm (Metropolis), stattdessen eine
“Anti-Dietrich: not destroyer of men but doll—languid, exhausted. …” (394)
Ihre Tochter Bianca (Episoden 43 und 44 ) hatte Greta Erdmann während der Dreharbeiten zu dem Film Alpdrücken empfangen, den sie mit ihrem Mann Max Schlepzig unter der Regie von Gölls gedreht hatte:
““(…) Alpdrücken was our first. I think Bianca is his child. She was convinced while we were filming this. He played the Grand Inquisitor who tortured me. Ah, we were the Reich’s Sweethearts— Greta Erdmann and Max Schlepzig.” (395)
Slothrop hatte von Emil ‘Säure’ Bummer einen falschen Pass mit diesem Namen erhalten. Zu der Namensfrage ist festzustellen, daß Pynchon die Namen «Greta» und «Max» einem anderen großen, vielleicht dem größten deutschen Horrorfilm überhaupt, entlehnt hat. Obwohl beide eine Reihe von Filmen nennen, die in Gravity’s Rainbow eine Rolle spielen, äußern sich weder Fowler noch Weisenburger zu dem Stummfilm Nosferatu, während Fritz Langs Metropolis ebenso viel Andacht erhält wie King Kong.

Hauptdarsteller in Fritz Murnaus Dracula-Adaption Nosferatu – eine Symphonie des Grauens (1921-22) aber waren

„die liebliche Greta Schröder (…) und natürlich der geheimnisvolle Star des Films: Max Schreck als Graf Orlok, der Vampir, das faszinierendste Gespenst der Filmgeschichte. Ein bisschen wunderlich muß er schon gewesen sein, dieser Künstler, von dem nichts geblieben ist als ein paar Fotos, Filmszenen, ein verwildertes Grab in Berlin-Wilmersdorf – und sein unvergessener Auftritt als Nosferatu.”
Benedikt Erenz: Eine Totenmaske für Greta Garbo, Die Zeit Nr. 22, 25. Mai 2000, p. 58.

“Rumors still persist that Max Schreck, the actor playing Nosferatu, was actually another, better-known performer in disguise (“Max schreck” is German slang for “maximum terror”).”
Hal Erickson at Allmovie Guide about Nosferatu.

An einen Zufall glaube ich hier, ebenso wie Margherita Erdmann, allerdings nicht. Slothrops Versuch, Greta die Paranoia zu nehmen, nachdem seine Enthüllung sie davon überzeugt hat, daß der seit 1938 verschwundene echte Max Schlepzig, der eigentlich einen jüdischen Namen trug, tot ist, geht fehl. Für Greta ist klar, daß das “Other Kingdom” hinter der Geschichte steckt, daß gerade Slothrop mit den Papieren von Max auf sie trifft. Der Leser hat diese Gewißheit nicht, es sei denn, er ist paranoid und glaubt an die «Große Verschwörung». Aber für uns läßt Pynchon eine andere Möglichkeit offen, denn wir alle wissen, was in Deutschland nach 1938 mit Menschen jüdischer Herkunft geschehen ist:
“It wasn’t his real name (…) Max had a very jewish name, Something-sky, and Gerhardt thought it more prudent to give him a new one.”
“Greta, someone also thought it prudent to name me Max Schlepzig.” (…)
“I knew it.”
“Knew what?”
“(…) Knew he was dead. He disappeared in ’38. They’ve been busy, haven’t They?”
Slothrop has picked up, in the Zone, enough European passport-psychoses to want to comfort her. “This is forged. The name’s just a random alias. The guy who made it oprobably remembered Schlepzig from one of the movies.”
“Random (…) Another fairy-tale word.” (395)
Gerade im Märchen ist jedoch für den Zufall kein Platz, das Märchenschema erzwingt einen bestimmten Handlungsablauf, auch das dekonstruierte Märchenschema in einem schwarzen Märchen wie Gravity’s Rainbow (siehe Muster-Patterns ).

Singularities

Der Abschnitt ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie Pynchon so unterschiedliche Bereiche wie Fetischismus und Konditionierung aus der Psychologie und Mathematik, Ballistik und Kosmologie aus der Naturwissenschaft über ihre Nullstellen miteinander verkoppelt. Für Ozier, auf den sich auch Weisenburger und Hayles beziehen,
„(…) berühren die Grenzwertprozesse der mathematischen Analysis ein zentrales Thema des Romans (…) diese Begriffe des Kalküls erlauben es ihm, Vorgänge der Grenzüberschreitung und Verwandlung metaphorisch zu verkleiden und symbolisch auszudeuten.”
(Ozier bei Ickstadt, Heinz p. 173)
Mathematisch sieht die Sache so aus:
„Eine Funktion f (z) hat an der Stelle z 0 ihres komplexen Arguments z eine singuläre Stelle oder Singularität, wenn sie dort nicht differenzierbar ist. Diese Stellen bringen die wesentlichen Eigenschaften der Funktion hervor und sind auch bei ihrer numerischen Behandlung die wichtigsten. Bei einer eindeutigen Funktion unterscheidet man eine Polstelle, bei deren Annäherung der absolute Betrag der Funktion gegen unendlich strebt, von einer wesentlich singulären Stelle, in deren noch so klein vorgegebenen Umgebungen die Werte der Funktion jeder komplexen Zahl beliebig nahe kommen.”
(Brockhaus)
Gegen Null oder Unendlich gehend markiert die Singularität einen Punkt, wo das Verhalten der Funktion unvorhersagbar wird. An dieser Stelle bricht die rationale Mathematik zusammen, hier befindet sich eine echte Schnittstelle (und hierum geht es Pynchon) zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, ein Übergang zwischen entgegengesetzten unterschiedlichen Bereichen, wobei der eine der beiden Bereiche unbeschreibbar ist, im Bereich der Unschärfe bleibt.
“How the penises of Western men have leapt, for a century, to the sight of this singular point at the top of a lady’s stocking, this transition from silk to bare skin and suspender! (…) –there is a cosmology: of nodes and cusps and points of osculation, mathematical kisses . . . singularities! Consider cathedral spires, holy minarets, the crunch of trainwheels over the points as you watch peeling away the track you didn’t take . . . mountain peaks (…) the edges of steel razors, always holding potent mystery . . . rose thorns (…) even, according to the Russian mathematician Friedmann, the infinitely dense point from which the present Universe expanded. . . . In each case, the change from point to no-point carries a luminosity and enigma at which something in us must leap and sing, or withdraw in fright. Watching the A4 pointed at the sky–just before the last firing-switch closes–watching that singular point at the very top of the Rocket, where the fuze is. . . . Do all these points imply, like the Rocket’s, an annihilation?” (396)
Was vernichtet wird, wenn wir dem Gleis hinterherschauen, das unser Zug nicht genommen hat, ist eine mögliche Wellenfunktion der Realität, genauer einer unendlichen Anzahl von Realitäten, die nun, nach dieser Weiche, ausgeschlossen sind.

Der Verweis auf die Rasierklinge kann nur ein ironischer Seitenhieb auf die in esoterischen Kreisen hinreichend bekannte Geschichte mit dem Cheopspyramidenrasierklingenschärfer sein, der 1959 in der Tchechoslowakei als Patent Nr. 91 304 angemeldet wurde, wie Lyall Watson (p. 107) berichtet.

Gegen Null oder Unendlich lauten auch die Gegensätze in der Kosmologie. Nach der derzeit gängigen Vorstellung von der Entstehung des gegenwärtigen Universums begann dieses mit einem gewaltigen «Big Bang» aus einem unendlich kleinen singulären Punkt. Der russische Mathematiker Alexander Friedmann (Fridman, 1888-1925) schuf 1922 und -24 mit seinen Berechnungen die Grundlagen für die unentscheidbare Vorstellung von einem offenen oder geschlossenen Universum und bahnte damit Edwin Hubble (1889-1953) den Weg. In einem geschlossenes Universum wird sich dereinst die Expansion in eine Kontraktion umkehren, das Universum wird wieder in einer solchen Singularität enden, der es nach dieser Vorstellung entstammt. Ein offenes Universum hingegen könnte auf ewig weiter expandieren, bis aller Wasserstoff in den Sternen verbaucht ist.

Das Kapitel endet damit, daß Greta und Slothrop miteinander schlafen und Greta im Orgasmus den Namen ihrer Tochter herausschreit: “Bianca. . . .” (397)


Episode 38 Episode 40

I Beyond the Zero II Un Perm’ au Casino Hermann Goering III In the Zone IV The Counterforce

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Professor Irwin Corey Accepts the National Book Award for Thomas Pynchon
Charles Hollander: Pynchon’s Inferno
Douglas Kløvedal Lannark: Paperware to Vaporware, The Nativity of Tyrone Slothrop
Douglas Kløvedal Lannark: Mason & Dixon: Astrological Review

© – Otto Sell – Monday, June 26, 2000.

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