Gravity’s Rainbow Episode 4 (35-50) (20-29)

Ort der Handlung ist die Stelle in Greenwich am Nullmeridian, wo Prentice seine "Post abholt" (siehe auch die Episoden 2 und 11 ). Es ist der Nachmittag des gleichen Tages, des 18. Dezembers 1944: Slothrop the Fool, John Bunyan, die Hand Gottes, Puritanismus, Slothrops Vorfahren, Häresie, die Dekonstruktion der binären Opposition von Elect und Preterite, Zero, der ökologische Aspekt


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18. Dezember 1944

In seiner bemerkenswerten Konkordanz A Gravity’s Rainbow Companion schreibt Steven Weisenburger, daß sich der Zeitpunkt der Handlung der ersten fünf Episoden durch spätere Anspielungen auf den 18. Dezember festlegen läßt:
"Episodes 1 through 5 all occur on the same day, which subsequent allusions pinpoint as Monday, December 18, 1944." (15–16)
Zwar hätte ich mir gewünscht, daß Weisenburger hinsichtlich dieser Anspielungen etwas präziser ist, ich glaube jedoch, daß einiges dafür spricht, daß er recht hat. Ausgangspunkt dieser Untersuchung war eine im August 2002 per E-Mail geführte Diskussion mit Douglas Lannark, dem ich an dieser Stelle für den Hinweis und seine konstruktive Kritik danken möchte. Um das grundlegende –eventuelle– Mißverständnis (das Ausgangspunkt unserer Diskussion war), hier von vorneherein auszuschließen, sei angemerkt, daß die den Roman eröffnende Rakete *nicht* die erste V-2 überhaupt war, die auf London abgefeuert wurde.

Pynchon selbst gibt keine Datierung an, und so habe ich mich auf die Suche nach einer Möglichkeit gemacht, Weisenburgers Angabe entweder zu bestätigen oder zu widerlegen. Eine Datierung, die Pynchon sehr wohl macht, ist nämlich die genaue Uhrzeit (nicht aber das Datum) des ersten V-2 Treffers auf London am Freitag, dem 8. September 1944:

"It was Friday evening, last September (…) The Moment was 6:43:16 British Double Summer Time" (25-26)
Während Pynchon den Leser also im Unklaren über den präzisen Zeitraum des Romans läßt, ist er ziemlich genau, was den MOMENT angeht, an dem dieses für Tyrone Slothrop, den Protagonisten des Romans überaus wichtiges Ereignis stattfand, eine Tatsache, die den Astrologen Douglas Lannark besonders interessiert hat.

Wie aber läßt sich verifizieren, was es mit dem von Weisenburger angenommenen 18. Dezember auf sich hat? Ich habe zu diesem Zweck in den Wehrmachtsberichten nachgeschlagen, jener verlogenen Propagandaberichte des Oberkommandos der Wehrmacht, die während des Krieges täglich im Völkischen Beobachter zu lesen waren. Zugegeben eine recht windige Quelle:

VB
"Nachdem seit dem 15. Juni der Großraum von London mit nur kurzer Unterbrechung und wechselnder Stärke unter dem Feuer der "V1" liegt, wird dieser Beschuß seit einigen Wochen durch den Einsatz eines noch weit wirksameren Sprengkörpers, der "V2", verstärkt."
(Wehrmachtsberichte Bd. 3, 324)
Auch hier ist eine sonderbare Mischung aus präzisen und unpräzisen Angaben zu beobachten, denn während das genaue Datum des ersten V–1 Angriffs auf London berichtet wird, wird der 8. September, der Beginn der V–2 Bombardierung, bewußt verschwiegen und stattdessen die ungenaue Formulierung "seit einigen Wochen" benutzt. Für den 18. Dezember verzeichnen die Berichte keine Raketenangriffe auf London (die Ardennenoffensive hatte gerade begonnen), dagegen heißt es am 17.12.1944: "London und Antwerpen werden weiterhin beschossen" (ibid, 370) und auch am 19.12.1944 wieder: "Das Feuer unserer Fernkampfwaffen auf London, Antwerpen und Lüttich wurde verstärkt fortgesetzt" (ibid, 371). Ich denke, die Tatsache, daß es diese Lücke gibt, daß am 18. Dezember keine Angriffe in den Berichten verzeichnet sind, läßt es durchaus hinreichend wahrscheinlich erscheinen, daß Pynchon bewußt dieses Datum für seine fiktionale Rakete gewählt haben mag.

Slothrop, the Fool

Auch Tyrone Slothrop, die Hauptfigur des Romans, ist anwesend und taucht damit in der vierten Episode des Romans erstmals auf, nachdem er in Episode 3 nur erwähnt wurde. Pynchon macht es wie Joyce im Ulysses, wo Leopold Bloom auch erst in der vierten Episode (Calypso) eingeführt wird.

Aber Slothrop kann nur leicht enttäuscht feststellen, daß alle auf Prentice warten, dessen Einheit ein vorrangiges Zugriffsrecht auf den mit der V–2 transportierten Nachrichtenzylinder hat. Die Geheimdiensteinheit, der Slothrop angehört, heißt ACHTUNG (Allied Clearing House, Technical Units, Northern Germany). Die deutsche Aussage des Akronyms, die Wichtigkeit suggeriert, steht im krassen Gegensatz zu der Bedeutung, die Slothrops Einheit im Roman zugemessen wird:

"everybody ignores ACHTUNG" (20).
Gleichzeitig ironisiert Pynchon den militärischen Sprachgebrauch des Wortes im Deutschen und dekonstruiert die binäre Opposition von Befehl und Gehorsam: Wenn ACHTUNG ignoriert wird, bricht das Rückgrat der militärischen Hierarchie, die wie jede binäre Opposition hierarchische Struktur von Befehl und Gehorsam zusammen.

Tyrone Slothrop ist der Anti-Held des Romans:

"Once upon a time Slothrop cared. No kidding" (21).
Er entwickelt Raketenparanoia, wobei ihm besonders die durch die Überschallgeschwindigkeit bedingte Umkehrung von Flug– und Explosionsgeräusch zu schaffen macht (23). Er ist von der Idee besessen, daß es die Rakete ganz persönlich auf ihn abgesehen hat, und das es eine Verschwörung gibt, die über den aktuellen Krieg und die Tagespolitik hinausgeht. Dabei ist er der postmoderne Anti-Held, der –wie in dieser Szene– stets zu spät kommt, und, wenn es um reale Drachen und nicht V2’s ginge, statt einer Prinzessin doch nur noch Drachenscheiße vorfinden würde:
"a Saint George after the fact, going out to poke about for droppings of the beast."(24)
"Slothrop’s Progress: London the secular city instructs him: turn any corner and he can find himself inside a parable. He has become obsessed by the idea of a rocket with his name written on it – if they're really set on getting him ("They" embracing possibilities far far beyond Nazi Germany)." (25)
Es ist eigentlich Ltd. Tyrone Slothrops Aufgabe, sich um eventuelle Überbleibsel der zerstörten Raketen zu kümmern, wenn nicht wie in diesem Fall andere, wichtigere Geheimdienstabteilungen ein erstes Zugriffsrecht haben. Er selber hat noch kein Bestandteil einer Rakete zu Gesicht bekommen. Er wurde, ohne es zu wissen, auf einen völlig unwichtigen Posten abgeschoben, um ihn unter Beobachtung zu halten. Seine Abteilung heißt zwar ACHTUNG, wird aber von allen anderen Geheimdienstabteilungen nicht beachtet, ein unheldischer Antiheld
„mit eingebauter Verspätung, auf der Suche nach dem, was sein Drache hatte fallen lassen." (42)
Der Heilige Georg, berühmt für seinen Kampf mit dem Drachen, war im Mittelalter ein beliebter Schutzheiliger, der zu den vierzehn Nothelfern gezählt wird. Im 22. Kapitel wird Slothrop seinen eigenen, allerdings von Pointsmans Leuten getürkten Drachenkampf gegen den konditionierten Oktopus Grigori zu bestehen haben, um Katje Borgesius zu retten, die kein bischen in Gefahr ist. Außer Grigori, der das Monster spielen muß, ist niemand in Gefahr. Das Schema des klassischen Helden wird dekonstruiert. Dieser Nicht-Held wird keine echten Drachen besiegen.

Die fiktionale V-2, die am Montag, dem 18. Dezember 1944 runterkommt, zerschellt am Nullmeridian in Greenwich. Captain ‘Pirate’ Prentice, mit dessen apokalytischem Traum der Roman beginnt, bekommt durch die Rakete die Nachricht von der holländischen Doppelagentin Katje Borgesius übermittelt, daß sie nach England will (Ende des 11 Kapitels), weg von der von dem deutschen SS-Offizier Weissmann befehligten V-2 Abschußbasis, dessen SS-Codename ‘Blicero’ im Deutschen ‘Tod’ bedeutet. Weissmann ist eine Figur, die bereits in Pynchons erstem Roman V. auftaucht (9. Kapitel, "Mondaugen’s Story"). Er hat den Hererojungen Enzian nach Deutschland gebracht, nachdem er in den ehemaligen deutschen Kolonien an Greueltaten gegen die Bevölkerung beteiligt war. Er ist der eindeutigste Vertreter des "Other Kingdom" hier auf „unserer" Seite des Vorhangs und will eine bemannte V-2 abschießen, um sich selbst auf eine technische Weise in die Unsterblichkeit zu transzendieren, sprich in das "Other Kingdom" zu kommen.
(‘Der Kinderofen’ — Episode 14, Patterns ).

Auf der aktiven Pynchon Mailing–Liste gibt es seit langem eine fortwährende (oder stets aufs neue aufflackernde) Diskussion über die ‘Bewertung’ (oder die Rolle) Weissmanns in den zwei Romanen Pynchons, in denen er auftaucht. Unabhängig davon kann ich nur empfehlen, V. als ‘Sekundärliteratur’ für Gravity’s Rainbow hinzuzuziehen.

Gravity’s Rainbow und Puritanismus: John Bunyan, William Slothrop und das ‘Other Kingdom’

John Bunyans The Pilgrim’s Progress from This World to That Which Is to Come von 1678 (Teil Zwei 1684), auf das Pynchon hier anspielt, gilt heute als eine der gelungensten christlichen Allegorien sowie als einer der meistgelesenen Texte der englischen Literatur, der einen großen Einfluß auf spätere Autoren erlangt hat. Er erlebte zehn Neuauflagen seines Hauptwerkes. Über seine „Bekehrung" von einem ziemlich „sündigen" Leben mit Trinken, Fluchen und außerehelichem Sex zu einem „gottesfürchtigen" Leben wird berichtet, daß er nach seiner Eheschließung durch den Einfluß seiner Frau begann, regelmäßig in die Kirche zu gehen und nach einer Sonntagspredigt sogar eine göttliche Erscheinung hatte, die der ähnelt, die bei Pynchon alle Slothrops hatten, und die als eine besondere Affinität
"to what is revealed in the sky" (26-27)
beschrieben wird. Es entspricht Pynchons Technik, daß er diese „Anekdote" aus dem Leben des Puritaners Bunyan in das Leben der puritanischen Familie seines Protagonisten einfließen läßt.

Die kurze Lebensbeschreibung „Aus Bunyans Leben" in der deutschen Übersetzung Bunyans ist an sich schon Literatur und gleicht eher einer Fabel als einer Einführung. Leider ist nicht vermerkt, wer der Verfasser ist und ob es sich um eine Übersetzung handelt:

„Plötzlich aber war es ihm, als riefe ihm eine Stimme vom Himmel zu „Willst du deine Sünden verlassen und in den Himmel oder deine Sünden behalten und in die Hölle fahren?" Hierüber außerordentlich erstaunt, blickte er zum Himmel empor, und es war ihm, wie er selbst berichtet, als ob der Herr Jesus sehr unwillig auf ihn herniederschaute. Aber Bunyan verschloß seine Augen dem Licht, und nachdem er zu dem Schluß gekommen war, für ihn sei die Gnadenzeit vorüber, entschloß er sich, das Glück dieser Welt und die Lust der Sünde in vollen Zügen weiter zu geniessen."
(John Bunyan, 9)
Die Slothrops haben auch eine besondere Affinität zum Himmel entwickelt. Seit Constant Slothrop sah jeder männliche Slothrop die Hand Gottes:
"that stone hand pointing out of the secular clouds, pointing directly at him, its edges tracing in unbearable light" (27)
Wenn man etwas tiefer einsteigt, macht der Verweis auf Bunyan Pynchons Technik deutlich, intertextuelle Zitate mit sehr viel Hintersinn ganz unauffällig in seinen Text einfließen zu lassen und dabei das hinter den Quellen steckende Weltbild zu evozieren und zu nutzen und dabei gleichzeitig zu dekonstruieren. Bunyans Buch ist vor allem unter dem ersten Teil des Titels The Pilgrim’s Progress bekannt, wovon bei Pynchon lediglich der «progress» übrigbleibt, also «Slothrop» für den «Pilgrim» steht.

Aber erst der volle Titel From This World to That Which Is to Come legt nahe, worum es Pynchon bei der Anspielung auf Bunyan neben dem Puritanismus auch geht: um die Gegenüberstellung zweier Welten, die Einführung seines "Other Kingdom."

Jede Beschreibung einer alternativen Realität oder Gegenwelt geht notwendigerweise von unserer Welt als Ausgangspunkt und Reflektionsfläche aus, aber schon die Beschreibung unserer Welt ist je nach Interessenlage völlig unterschiedlich. Bei der "gothic literature" kann das Grauen in eine perfekte Idylle einbrechen und wird so den gruseligsten Effekt erzielen, während aus puritanischer–christlicher Sicht unsere Welt das Jammertal ist und die Idylle nach unserem Tod auf uns wartet, wenn wir fromm gelebt haben. Je eher das Leben vorbei ist, desto besser. Es hat eigentlich nur den Sinn, so gottesfürchtig zu leben, daß man der ewigen Verdammnis entrinnt. Die puritanische Ideologie basiert auf dieser binären Opposition von Himmel und Hölle, bei der unsere Welt lediglich eine Zwischenzone ist. Dies ist der zweite, bei dem Verweis auf Bunyan zu beachtende Aspekt, der Hinweis auf den Puritanismus, dessen Weltsicht eine Grundlage für die in Gravity’s Rainbow beschriebene Welt ist.

Bereits Bunyans erste Bibelzitate enthalten in schönen binären Oppositionen das puritanische Credo, daß unser hiesiges, durch die kurze Spanne unseres Lebens begrenztes Leid dereinst mit einer ewigen Herrlichkeit im Himmelreich vergolten werden wird:

„Unsere Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine
ewige und über alle Maßen wichtige Herrlichkeit"
(2. Kor. 4, 17)
Der Zusammenhang, den der Puritanismus zwischen hiesigem Handeln (und Leiden) und jenseiter Belohnung herstellt, ist selbstverständlich lediglich eine Ausprägung des Prinzips von Ursache und Wirkung, eine weitere binäre Opposition, die Roger Mexico später in Episode 9 "the damned Calvinist insanity" (57) nennt.

Der marxistische Historiker A. L. Morton definiert den englischen Puritanismus als eine Bewegung, die sich ihrer historischen Rolle als "Counterforce," als «progressive Klasse» innerhalb einer revolutionären Auseinandersetzung durchaus bewußt war und zitiert Samuel Butler (Erewhon, or, over the Range):

"In the main Puritanism was not so much a matter of theological dissent as of a peculiar attitude towards morals and behaviour, a different conception of Church discipline and of civil government. The political radicalism of the Puritan grew naturally from his realtion to God and to society. He was one of the Lord’s chosen people, the elect. In all his activities he was encompassed by the grace of god, so that every event from the greatest to the most trivial could be classed as a trial or a leading, a mercy or a judgement. A lively faith in the doctrine of predestination divided him and his fellows from the vessels of wrath who composed the world. As God’s chosen people the Puritans felt their triumph inevitable and their enemies to be God’s enemies. Against any man, be he king or priest, who ventured to lay burdens or chains upon them they felt entitled to fight with any weapon that the Lord put into their hands—and sometimes the Lord gave them very crucial weapons indeed. All of which is really saying, in the Biblical language of the Seventeenth Century, that they were conscious of their mission as a historically progressive class engaged in a revolutionary struggle. (…) Butler’s malicious picture if the Puritans, drawn to amuse the victorious Cavaliers after the Restauration of 1660, is true to at least this extent that the Puritans who:
"Build their faith upon
The holy text of pike and gun"
were the possessors of a fighting religion."
(Morton, p. 219-220)
Slothrops Vorfahr William schrieb im 17. Jahrhundert ein häretisches Traktat, "On Preterition," in dem er Heiligkeit auch für die "Preterite," die Übergangenen der Apokalypse reklamierte, weil es ohne diese keine Auserwählten geben könne. Der Begriff „auserwählt," der eine Differenzierung beinhaltet, impliziert, daß es auch jemanden geben muß, der übergangen wurde, sonst macht er keinen Sinn. Ohne Übergangene keine Auserwählten:
„William war der Überzeugung, daß das, was Jesus für die Erwählten war, Judas Ischariot für die Übergangenen bedeutete. Nichts in der Schöpfung bleibt ohne Ausgleich und entsprechenden Gegenpol. Wie kann da Jesus eine Ausnahme bilden?"
Episode 54, 866

"William felt that what Jesus was for the elect, Judas Iscariot was for the preterite. Everything in the Creation has its equal and opposite counterpart. How can Jesus be an exception?" (54, 555)

Jede binäre Opposition, das Schema der binären Oppositionen an sich kann auf diese Weise dekonstruiert werden, indem aufgezeigt wird, daß die Bedeutung des angeblich hierarchisch höher stehenden Pols nur durch sein Gegenteil zustandekommt, so wie in der Sprache der Signifikant seine Bedeutung nur dadurch erhält, daß er seine Identität durch das nichtsprachliche Signifikat erhält, das er nicht ist.

Für Slothrop wird die Rakete zur Hand Gottes und er entwickelt Paranoia vor der V–2, vor allem wegen der umgekehrten Reihenfolge von Fluggeräusch und Explosion/Einschlag der Rakete, die das Prinzip von Ursache und Wirkung zu verletzen scheint:

"You can’t hear them when they come in (…) these things explode first, a–and then you hear them coming in. Except that, if you’re dead, you don’t hear them. (…) it could happen any time, the next second, right, just suddenly…shit…just zero, just nothing…" (23–25)
Hier wird Zero mit dem Tod gleichgesetzt (Douglas Fowler). Für einen Nichteingeweihten und agnostischen Menschen wie Tyrone Slothrop heißt Nicht-Existenz lediglich Tod. Letztlich aber steht seine Paranoia vor der Rakete für die Paranoia, die wir alle empfinden müßten (beziehungsweise bis 1989 empfunden haben mußten, solange uns Tausende von Interkontinentalraketen bedrohten, die jederzeit hätten losgehen können). Der nukleare Holocaust und der folgende nukleare Winter wäre wahrscheinlich tatsächlich zum "Final Zero" der menschlichen Rasse geworden, und auch wenn Pynchon scheinbar auf einen Tag im Jahre 1931 bezug nimmt, spielt er doch auf den nuklearen Winter an, ein Schicksal an, das uns 1973 allen zwar nur latent, aber doch ständig drohte:
"But what Lights were these? What ghosts in command? And suppose, in the next moment, all of it, the complete night, were to go out of control and curtains part to show us a winter no one has guessed at. …" (29)

Der ökologische Aspekt

Zwar scheint die nukleare Bedrohung durch das Ende der tödlichen Ost-West Umklammerung ausgeräumt zu sein. Angesichts von Schlagworten wie „nuklearer Proliferation" sowie „Globalisierung," die uns alle weiterhin zu „Subjekten" weltweit operierender, nicht zu fassender Systeme macht, vermag ich mich jedoch nicht einem grenzenlosen Optimismus hinzugeben, zumal die Vernichtung der natürlichen Umwelt in dem ungehinderten Maß weitergeht, in dem die „Slothrops" an der amerikanischen Ostküste damit begonnen hatten, Leben in Tod zu verwandeln und sich so der Zero zu nähern:
"Country for miles around gone to necropolis. (…) The money seeping its way out through stock portfolios more intricate than any geneology: what stayed home in Berkshire went into timberland whose diminishing green reaches were converted acres at a clip into paper – toilet paper, banknote stock, newsprint – a medium or ground for shit, money and the Word. Shit, money and the Word, the three American truths, powering the American mobility, claimed the Slothrops, clasped them for good to the country’s fate. (…) Interest from various numbered trusts was still turned, by family banks down in Boston every second or third generation, back into yet another trust, in long rallentando, in infinite series just perceptible, term by term, dying … but never quite to the zero." (27-28)
Die besondere Beziehung Slothrops zur Rakete besteht darin, daß ihr Explosionsgeräusch bei ihm eine Erektion auslöst (26). Im weiteren gibt das Kapitel Aufschluß über Slothrops puritanische Vorfahren in Massachusetts und deren besondere Beziehung zum Tod. Pynchon verdeutlicht eindringlich die für die Umwelt und das Leben tödlichen Folgen der puritanischen Verdrängung sowie des amerikanischen Mythos von der unbegrenzten Weite des Raumes, den man nur zu erobern braucht und sich nutzbar machen muß, ohne die Folgen zu bedenken:
"timberland whose diminishing green reaches were converted acres at a clip into paper–toilet paper, banknote stock, newsprint–a medium or ground for shit, money and the Word (…) the three American truths (…) everyone knew – mine it out, work it, take all you can till it’s gone then move on west, there’s plenty more" (28).

Literatur

Samuel Butler: Erewhon, Goldmann, München 1985, Vito von Eichborn, Frankfurt am Main 1981.

John Bunyan: Pilgerreise zur seligen Ewigkeit, Telos, Lahr 1922/91.

A. L. Morton: A People’s History of Britain, (1938), Lawrence & Wishart, London 1984.

Die Wehrmachtsberichte — unveränderter photomechanischer Nachdruck, DTV, München 1985.

Links

Historic Events & Birthdates Website

Puritanismus — bei Wikipedia.

Episode 3 Episode 5

I Beyond the Zero II Un Perm’ au Casino Hermann Goering III In the Zone IV The Counterforce

Index Hauptseite Vorwort Michael D. Bell-Summary Biographie Dekonstruktion Richard Fariña Robert Frost Galerie Literatur Luddism Mason & Dixon Monographien u. Aufsätze Muster — Patterns Schweine Slow Learner Soccer Sterblichkeit und Erbarmen in Wien Proverbs for Paranoids Vineland Weblinks Weiterführende Literatur Wernher von Braun Fay Wray The Wizard of Oz The Zero

Professor Irwin Corey Accepts the National Book Award for Thomas Pynchon
Charles Hollander: Pynchon’s Inferno
Douglas Kløvedal Lannark: Paperware to Vaporware, The Nativity of Tyrone Slothrop
Douglas Kløvedal Lannark: Mason & Dixon: Astrological Review
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© Otto Sell – Monday, June 26, 2000
Last update Thursday, December 24, 2009

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