Thomas Pynchon: "Mach mal halblang, Bugliosi" — "Natürliche Mängel" und der Charles–Manson–Hintergrund

Der historische Hintergrund von Thomas Pynchons Roman "Natürliche Mängel" ist das Ende der Hippie–Ära, die, ausgelöst durch den Vietnam–Krieg, die amerikanische Gesellschaft in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts nicht weniger erschütterte und veränderte als die Bürgerrechtsbewegung, die zur gleichen Zeit für die Gleichberechtigung des schwarzen Bevölkerungsteils in den USA kämpfte:

Die Hippies – hip heißt eingeweiht oder unter dem Einfluß von Drogen stehend – verabscheuten die materiellen Standardbesitztümer ihrer Eltern. Den sozialen Mechanismus hatten sie durchschaut, der nacheinander Bedürfnisse weckte, manipulierte und befriedigte. Mit unkonventioneller Kleidung, love–ins und be–ins gaben sie einem neuen Lebensstil Ausdruck, der von Liebe und Spontaneität geprägt sein sollte, von organisch gewonnenen Lebensmitteln und psychedelischen Drogen, vom kommunalen Lebensformen und von einem anarchisch begriffenen Pazifismus. Freiheit war das Schlüsselprinzip. Amerikas utopische Tradition erlebte eine Renaissance. Überall im Lande entstanden Hippiekommunen, Hindukommunen, Gegenkulturkommunen. (…) Der Buddhismus schien dem Amerikanismus und seinen trivialen Verheißungen von Glück überlegen zu sein. Der Guru kam zu neuen Ehren. (…) Marihuana und andere halluzinogene Drogen suspendierten die Ordnungsvorstellungen des Systems. (Raeithel, S. 397-98)

Soweit das Handbuch, das zu folgendem Fazit kommt:

Was haben die Hippies, was hat die Gegenkultur bewirkt? Die Einführung alternativer Lebensformen wurde erleichtert. (…) Auf lange Sicht jedoch wirkten die Prinzipien der flower power inmitten der gesellschaftlichen Realität absurd. (Raeithel, S. 400)

Absurd? Sicher, angesichts solcher Tatsachen, dass aufgrund dieser gesellschaftlichen Realität das mächtigste Land der Erde seinen andersfarbigen Mitbürgern die gesellschaftliche Gleichstellung versagte oder ein anderes, mehrere tausend Kilometer weit entferntes, überwiegend von Bauern bewohntes Land tagtäglich mit tausenden von Tonnen an Napalmbomben belegte.

Fragen wir also einen anderen Gewährsmann, einen, der dabei gewesen ist und zur "Bewegung" dazugehörte. Ed Sanders war Mitglied der "Fugs", einer Politrock–Band aus New York, bevor er sich Anfang 1970 auf die Spurensuche nach Charles Manson begab. Er verweist bereits im ersten Kapitel seines Buches "The Family" (1971) auf einen natürlichen Mangel der Hippie–Bewegung:

Man hätte in San Francisco leben müssen, um die Raserei zu begreifen, die im Frühjahr und Sommer 1967 über Haight–Ashbury hinbrandete. In ganz Amerika verbeitete sich die Botschaft, um der Liebe und der Blumen willen nach San Francisco zu kommen. Kalifornien wurde überflutet von dem, was die New York Times als *Hippies* etikettierte. Aber überall in den USA, in Hunderten von Städten, kam es in diesem Frühjahr und Sommer 1967 zu Love–ins, Be–ins, Share–ins und Blumen. (…) Potentiell war die Flower Power–Bewegung eine der machtvollsten verändernden Kräfte, die es in der jüngsten Geschichte gegeben hat (…) Es war ein nobles Experiment. Es war die Politik der Freiheit. (…) Menschen lebten und liebten auf den Straßen und in den Parks. Das alles bedeutete Freiheit. Es gab keine Vorschriften. Aber da war eine Schwäche: Unter dem Gesichtspunkt der Verletzlichkeit betrachtet glich die Flower–Power–Bewegung einem von tausenden pummeligen Kaninchen bevölkerten Tal, das von verwundeten Kojoten umzingelt war. (…) Haight Ashbury zog gemeine Verbrecher an, die sich langes Haar wachsen ließen. Bikers versuchten mit brutalen Methoden den LSD–Markt zu übernehmen. Gepanschte Drogen wurden von pickeligen Amphetaminsüchtigen verkauft. Teufelsanbeter und satanisch–brutale Todes–Freaks überschwemmten die überfüllten Pennlager. Leute wurden in den Parks ausgeraubt. Rassenunruhen kamen auf. Scheiße wurde als Heilsbotschaft verkauft. Die Szene war kaputt. (Sanders, S. 31–32)

Soviel also dazu. Die Hippie–Bewegung hatte sich im Oktober 1967 bereits selber im Buena Vista Park in Haight Ashbury zu Grabe getragen. Dabei war 1967/68 noch gar kein Heroin im Spiel, jedenfalls noch nicht in größerem Umfang. Weder erwähnt Sanders es besonders, noch ist der Begriff "Heroin" im Index des Buches von Vincent Bugliosi aufgeführt. Wie kaputt muss da die "Szene" erst in den Jahren 1969/70 gewesen sein, als das billige Heroin aus Südostasien den amerikanischen Markt überschwemmte — im übrigen auch eine Folge des Vietnam–Krieges.

Der Niedergang Haight Ashburys sowie die Grablegung des "Hippies, Sohn der Medien", veranlasste sicherlich nicht nur Manson und seine Jünger dazu, San Francisco zu verlassen und die Bewegung in die Welt hinaus zu tragen ...Goin’ up the Country... In Los Angeles lebte man am Strand (oder, wie die "Family", in der Wüste). So auch Thomas Pynchon zu jener Zeit, als er "Gravity’s Rainbow" schrieb und in einem kleinen Haus in Manhattan Beach, dem Vorbild für das fiktive "Gordita Beach" in "Natürliche Mängel", wohnte.

Manson war einer jener Kojoten, von denen Sanders spricht. Er sah sich selber nie als "Hippie", hatte zwischen Mai 1960 und März 1967 fortwährend im Gefängnis gesessen, nachdem er seit seiner letzten Haftentlassung 1958 "ein Jahr, acht Monate und zwei Tage frei gewesen" (Sanders, S. 22) war. Er hatte zwar wegen Scheckfälschung gesessen, seine wahre Begabung aber hatte lag darin, dass er Mädchen überreden konnte, für ihn auf den Strich zu gehen. Wahrlich ein Sohn des Systems, wie er selber in seiner Zeugenaussage beteuert, der es unter den leichtgläubigen, naiven und nach Orientierung hungernden Mittelklassekindern leicht hatte. Sanders betont, dass Manson die ganzen gesellschaftlichen Umbrüchen in den USA im Knast nur aus zweiter Hand mitbekommen und sich stattdessen mit seiner kriminellen Ausbildung sowie mit Esoterik und insbesondere Scientologie beschäftigt hatte. Das war natürlich eine prima Vorbereitung für das Kaninchental, in das ihn die Behörden schließlich entließen. Manson war ein Fan des Coyoten, des einzigen amerikanischen Wildtieres, dessen Population seit der Ankunft der Europäer in Nordamerika zugenommen hat und das sein Verbreitungsgebiet ausdehnen konnte.

Gewisse Referenzen* verweisen die Handlung des Romans auf einen Zeitraum zwischen dem 24. März und dem 8. Mai 1970; der 24. war der Dienstag zwischen Palmsonntag und Gründonnerstag. Im 16. Kapitel, am Montag dem 4. Mai 1970, ist Doc Sportello bei Penny, der stellvertretenden Staatsanwältin, mit der er ein Techtelmechtel hat. Ein Joint, Sex, die Playoffs der Eastern Division und schließlich Vincent Bugliosi, der Chefankläger im Manson–Fall in den

Elf–Uhr–Nachrichten, die sich zu Pennys wachsender Verärgerung wie immer ausschließlich den neuesten Entwicklungen im Fall Manson widmeten, der in Kürze vor Gericht verhandelt werden würde.
"Mach mal halblang, Bugliosi", fauchte sie den Bildschirm an, während der leitende Ankläger sich seine allabendlichen Minuten lang vor der Kamera spreizte.
"Eigentlich hätte ich gedacht, dass dieser vorprozessuale Kram genau dein Fall wäre", sagte Doc.
"War es eine Zeitlang auch. Bei ein paar vorgerichtlichen Aussagen haben sie mich dabei sein lassen, aber eigentlich wollen die Kerle lieber unter sich sein. Was mir immer noch richtig gefällt, ist wenn ich höre, dass diese Hippiebräute alles getan haben, was Manson ihnen gesagt hat. Dieses Herr–und Sklavinnen–Ding, weißt du, das ist irgendwie süß."
"Ach ja? Du hast mir nie gesagt, dass du auf so was stehst, Penny, heißt das etwa, wir beide hätten die ganze Zeit –"
"Mit dir? Vergiss es, Doc."
"Wieso?"
"Na ja . . ." War da in ihren Augen das, was man ein boshaftes Funkeln nannte? "Klein genug bist du ja. Jedenfalls beinahe, denke ich. Aber verstehst du, es ist nicht nur der hypnotische Blick, Charlies großer Reiz besteht darin, dass er auf Augenhöhe mit den Ladies ist, die er herumkommandiert. Vielleicht geht’s auch darum, mit Daddy zu vögeln, aber der eigentlich perverse Kitzel besteht darin, dass Daddy nur eins fünfundfünfzig groß ist.
"Wow, Mann, also . . . daran könnte ich arbeiten."
"Halt mich auf jeden Fall auf dem Laufenden."
(362–63)

Wie bereits an anderer Stelle gesagt, hat Pynchon für die Romanhandlung einen Zeitraum gewählt, der nach der Entdeckung und Verhaftung der Verantwortlichen, aber vor der Eröffnung des eigentlichen Prozesses gegen die Mörder liegt. Diese Zeit war eine Zeit der Paranoia; die Angst ging um in den Hollywood Hills. Begonnen hatte die Angst nach den Morden, aber sie hatte nicht mit der Verhaftung der Verdächtigen geendet. Niemand wußte, ob es nicht noch Andere gab, die Mansons Programm ausführten, und so wurden aus den harmlos–verrückten Hippies plötzlich eine Bedrohung:

It was then the fear began.
When the news of the Tate homicides broke, even those acquainted with the victims were less fearful than shocked, for simultaneously came the announcement that a suspect had been arrested and charged with the murders. Garretson, however, had been in custody when these new murders took place. And with his release that Monday—still looking as puzzled and frightened as when the police "captured" him—the panic began. And spread. (...)
Sometimes fear can be measured. Among the barometers: In two days one Beverly Hills sporting goods store sold 200 firearms; prior to the murders, they averaged three or four a day. Some of the private security forces doubled, then tripled, their personnel. Guard dogs, once prized at $200, now sold for $1,500; those who supplied them soon ran out. Locksmiths quoted two–weeks delays on orders. Accidental shootings, suspicious person reports—all suddenly increased.
(...)
Friendships ended, romances broke up, people were abruptly dropped from guest lists, parties cancelled—for with the fear came suspicion. The killer or killers could be almost everyone.
(Bugliosi, S. 42)
Das "Herr–und Sklavinnen–Ding" indes war enorm wichtig für den Ankläger, um Manson mit den Morden, bei denen er selber nicht anwesend war, in Verbindung zu bringen.


* Die Herleitung geht, laut Tim Ware , wie folgt: im ersten Kapitel auf Seite 20 erfährt der Leser, dass der Roman an einem Dienstag beginnt. Aus dem zweiten Kapitel ist aus Seite 43 lediglich zu entnehmen, dass die Manson–Morde bereits stattgefunden haben, nicht aber, wie weit die Ermittlungen oder der Prozess vorangeschritten sind. Eine genauere zeitliche Bestimmung gelingt erst auf Seite 149, als Doc Sportello am Montag, dem 30. April ein bestimmtes Basketballspiel der NBA Playoffs anschaut. Indem man die seit dem Beginns des Romans verstrichenen Tage zählt, kann man den 24. März 1970 als Beginn der Romanhandlung festlegen. Eine gewisse Verunklarung wird durch die Formulierung "In den paar Tagen" auf Seite 234 betrieben. Allerdings kann, so Tim Ware, durch spätere weitere Basketball–Verweise auch der zweite Teil des Romans zeitlich genauer bestimmt werden sowie Donnerstag, der 8. Mai 1970, als letzter Tag des Romans festgelegt werden. Der 8. Mai wird in allen Biographien als Pynchons Geburtstag angegeben.

Links

Real Time and Narrative Time in Inherent Vice — by Tim Ware, Inherent Vice Wiki.

Die Zeugenaussage von Charles Manson vom 19. November 1970

Horrortrip aus Wahn und Gewalt — von Vincent Bugliosi: Ablauf und Hintergründe des Massakers in einer SPIEGEL-Serie — Einleitung. DER SPIEGEL 49/1974, 02.12.1974.

Erhebt Euch – Tod den Pigs! — US-Staatsanwalt Vincent Bugliosi über Charles Manson und den Mordfall Sharon Tate. DER SPIEGEL 49/1974, 02.12.1974.

Erhebt Euch – Tod den Pigs! — US-Staatsanwalt Vincent Bugliosi über Charles Manson und den Mordfall Sharon Tate / 1. Fortsetzung. DER SPIEGEL 50/1974, 09.12.1974.

Erhebt Euch – Tod den Pigs! — US-Staatsanwalt Vincent Bugliosi über Charles Manson und den Mordfall Sharon Tate / 2. Fortsetzung. DER SPIEGEL 51/1974, 16.12.1974.

Erhebt Euch – Tod den Pigs! — US-Staatsanwalt Vincent Bugliosi über Charles Manson und den Mordfall Sharon Tate / 3. Fortsetzung. DER SPIEGEL 52/1974, 23.12.1974.

The Fugs — Wikipedia

Literatur

Vincent Bugliosi, Curt Gentry, "Helter Skelter, The True Story of the Manson Murders", W. W. Norton & Company, New York 1974
Thomas Pynchon, "Inherent Vice", The Penguin Press, New York 2009
Thomas Pynchon, "Natürliche Mängel", Rowohlt, Hamburg 2010
Gert Raeithel, "Geschichte der nordamerikanischen Kultur", Band 3, Zweitausendeins, Frankfurt a.M. 1995
Ed Sanders, "The Family, Die Geschichte von Charles Manson und seiner Strand–Buggy Streitmacht", das neue buch, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, Dezember 1972

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