Ottos Weblog Juni 2005

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Thursday, June 02, 2005

Holland in Not

Was sind die tatsächlichen Ursachen und was folgt aus der Ablehnung der EU–Verfassung durch unsere französischen und niederländischen Nachbarn? Liest man die heutige Presseschau des Deutschlandfunks, so benennt jeder Kommentator andere Gründe und verweist auf andere Folgen dieser immerhin bemerkenswerten demokratischen Entscheidung der Menschen in zwei der wichtigsten Mitgliedsländer der Europäischen Union. Eine umfassendere Erklärung scheitert, wie im übrigen auch bei den Analysen durch die betroffene Politikerelite, aber zumeist an der ideologischen Ausrichtung der Person, die kommentiert.

Ist es das Versagen im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, die Osterweiterung, der Euro oder die weitverbreitete allgemeine Xenophobie, die zur Ablehnung geführt haben, oder sind es alle diese Gründe (zuzüglich noch einiger mehr) zusammen, die man bedenken muß, wenn man nach einer umfassenden Erklärung sucht.

Oder gibt es eine solche umfassende Erklärung gar nicht, weil in Frankreich und den Niederlanden jeweils ganz unterschiedliche Gründe und die unglaublichsten Koalitionen unter den Neinsagern auszumachen waren. Und glaubt man den Demoskopen, wäre ein Referendum hierzulande nicht negativ ausgefallen, wohl weil die Menschen schon mit der NRW–Wahl Gelegenheit genug hatten, die Regierung abzustrafen; eine Motivation, die wohl die meisten Neinsager quer durch alle Lager teilen.

Paradox ist, und diese Unlogik teilt diese Ablehnung mit der NRW–Wahl, ist die Tatsache, daß diejenigen abgestraft werden, die das machen, was dringend nötig ist. Das sieht auch Richard Bernstein in der New York Times so:

"The governing parties of the left and the right are saying the same things to their people: that painful, free–market economic reforms are the only path toward rejuvenation, more jobs, better futures. And the people, who have come to equate the idea of an expanded Europe with a challenge to cradle–to–grave social protections, are giving the same answer: We don’t believe you. (…) The paradox here is that if the political elites and most economists are right in saying that free–market reforms and more competition are essential for these nations to match their economic competition, then the "democratic intifada" could rob the faltering core of Europe of the very means it needs to rejuvenate itself." ‘No’ Votes in Europe Reflect Anger at National Leaders
Bernstein sieht es im weiteren genau wie ich, daß uns die Abwahl Schröders und die wahrscheinliche Wahl Merkels zur Kanzlerin viel härteren Reformen aussetzen wird:
"(…) namely that in repudiating Mr. Schröder because they do not like his reform program, the Germans are turning to the conservatives’ candidate for chancellor, Angela Merkel, who is likely to enact even tougher reforms than Mr. Schröder did. Of course, it does not help that unemployment keeps rising, to 12 percent now, just as Mr. Schröder’s reforms have started to take a real bite out of the public welfare. In the view of many analysts, Mrs. Merkel will have a grace period in which to enact her program, during which Germany will have a real chance to lift itself out of its stagnation. The risk is that if the conservatives' reforms do not show results fairly quickly, the political pendulum will swing against her just as it has swung against Mr. Schröder." ibid
Letzteres wäre zu hoffen, allein, ich befürchte, die Konservativen werden bei jedem Fehlschlag und bei einem weiteren Ausbleiben von ökonomischen Erfolgen stets auf die leeren Kassen verweisen, die ihnen die Linke hinterlassen hat.

Es stellt sich aber tatsächlich die Frage, wieviel Reform nötig ist und in welchem Tempo die angeblich so verwöhnten Europäer gewillt sind, mit ihrer politischen Elite mitzugehen. Ist es tatsächlich bittere Notwendigkeit, auf so manche liebgewonnene soziale Errungenschaft zu verzichten, weil die Globalisierung dies verlangt, oder unterwerfen sich unsere Politiker sich nicht allzu freiwillig unter den Willen der neoliberalen Ökonomie, die seit 1989, und noch einmal nach dem 11. September 2001 verstärkt zur leitenden Maxime allen politischen Handelns auf der Welt geworden ist. Die neoliberalen Think Tanks verlangen allen Ernstes auf lange Sicht den weitgehenden Verzicht auf jedes fürsorgliche staatliche Handeln. Der Markt soll es richten.

Ich denke, nach dem Referendum gerade in Frankreich werden es sich die Eurokraten überlegen müssen, ob sie mit der Umgestaltung der europäischen Institutionen und deren totalen Ausrichtung auf den Markt und dessen Gesetze riskieren wollen, über kurz oder lang die politische Stabilität der europäischen Kernstaaten aufs Spiel zu setzen. Und auch das Mißtrauen der Niederländer gegen einen europäischen Superstaat ist aus deutscher Sicht höchst ehrenwert: ohne den starken Föderalismus in Deutschland wäre Schröder schließlich nicht vorzeitig gestürzt. Wenn die Nationalstaaten Kompetenzen an Europa abgeben, muß Brüssel von diesen so viele wie möglich an die Regionalstaaten in den Mitgliedsländern zurückgeben.

Saturday, June 11, 2005

Was in diesem Monat schon so alles geschehen ist, hat mich beinahe stumm werden lassen. Nach der letzten Katastrophenmeldung von Ende Mai, daß Schröder der Merkel die Republik anscheinend auf dem Silbertablett präsentieren will, gibt sich die Linke große Mühe, mit der hundertjährigen Selbstzerfleischung fortzufahren. Oskar Lafontaines Ankündigung, auf der gemeinsamen Liste von PDS und WASG an der Seite Gregor Gysis in den Bundestag einziehen zu wollen, hat das allgemeine Interesse vordergründig von den Konzepten auf die Personen verlagert, aber Lafontaine und Gysi stehen natürlich für ein anderes "Links" als Schröder und Müntefering. Insofern sind die Konzepte natürlich schon im Spiel. Lafontaine ist schließlich deshalb 1999 zurückgetreten ist, weil er Schröders Weg für falsch hielt. Man könnte argumentieren, daß er Recht gehabt hat, denn Schröders Reformkonzepte haben die SPD anscheinend genau dorthin gebracht, wo sie jetzt ist — unter dreißig Prozent! Die SPD ist natürlich sauer und aufgebracht, Lafontaine wird als Populist und Schönwetterpolitiker gebrandmarkt, der sich aus dem Staub gemacht hat, als es eng wurde:

"Der saarländische SPD-Vorsitzende Heiko Maas sagte (…): "Willy Brandt würde sich im Grabe umdrehen" (…)."
SPD verhöhnt Lafontaine
Würde er vielleicht, aber es ist doch wohl offen, weshalb — wegen Oskars "Verrat" oder wegen der 29 Prozent, auf die die SPD in den Wahlumfragen gefallen ist; ein Rückstand, der unmöglich bis zu den geplanten Wahlen im September aufzuholen ist. Folglich kann doch aus linker Sicht die Lösung nur lauten, durch ein neues, alternatives Linksbündnis diejenigen an die Wahlurnen zurückzubringen, die es nicht mehr mit sich vereinbaren können, die SPD oder die Grünen zu wählen, und so den erwarteten glatten Durchmarsch der Rechten zu verhindern. Die Frage wird sein, wieviele Stammwähler von der SPD abzieht oder ob nicht seine Hochzeit mit Gysis PDS einen gegenteiligen Effekt bei der SPD bewirkt: jetzt gehts ums Ganze!

Einige Highlights aus der heutigen Presseschau des Deutschlandfunks:

"(…) die Präsenz des charismatischen 'Oskar' macht das Bündnis für viele Deutsche wählbar – auf Kosten der SPD. Doch am meisten wird sich die Union freuen. Denn was haben jetzt die Sozialdemokraten noch zu bieten? Wer den alten Versorgungsstaat zurück will, wird das Linksbündnis wählen. Wer sich hingegen tiefgreifende Reformen wünscht, wird für Schwarz–Gelb stimmen", mutmaßt DIE PRESSE aus Wien.

"Es ist vor allem die mögliche Spitzenkandidatur des Volkstribuns Lafontaine, welche die Folgen der Operation so unkalkulierbar macht", betont das Mailänder Blatt CORRIERE DELLA SERA.

DER STANDARD aus Wien stellt fest: "Die Union bedrängt Schröder von rechts, PDS/WASG von links. Kein Wunder, dass man sich in der SPD voller Bangen fragt: Wird uns überhaupt noch jemand wählen außer Schröders Mutter?"

Zu der Meinung des Kommentators der Wiener PRESSE ist zu sagen, daß der Kanzler vielleicht genau darin seine Chance sieht, sich in der Mitte zwischen Links und Rechts zu positionieren. Ich frage mich jedoch ernsthaft, ob ihm die Menschen unabhängig von jeglichem Rechts–Links Geschiebe die Lösung der Probleme überhaupt noch zutrauen. Dem italienischen Kollegen kann man nur zustimmen: die Imponderabilien dieser Wahl sind immens. Zum STANDARD ist zu sagen, daß Druck von Außen natürlich den Schulterschluss stärkt und mit seiner Entscheidung, vorzeitige Neuwahlen anzustreben, hat Schröder alle Flügel seiner Partei in die Pflicht genommen. Das Argument, das allen Wahlkämpfern von Rot–Grün zur Verfügung steht, wird lauten: wollt ihr wirklich Merkel, Stoiber, eine weitere sozial Demontage und die ungebremste Globalisierung? Denjenigen, die nicht mehr grün wählen woll(t)en, gibt man mit der angestrebten Verlängerung der AKW–Laufzeiten gewichtige Argumente in die Hand, zumindest den Versuch zu unternehmen, Schwarz–Gelb zu verhindern.

Friday, June 17, 2005

Die türkische Regierung und Teile der Bevölkerung haben äußerst ungehalten auf den gestrigen Bundestagsbeschluss reagiert, den Völkermord an den Armeniern auch als solchen zu bezeichnen. Regierungschef Erdogan war wohl besonders sauer auf Gerhard Schröder, dessen "Rückgratlosigkeit" er kritisierte:

Der Kanzler habe sich erst kürzlich der türkischen Position in der Armenierfrage angeschlossen. Vor dem Bundestagsbeschluss hätte der Kanzler dies erneut klar machen und auch Einfluss auf die SPD-Bundestagsabgeordneten nehmen müssen, sagte Erdogan. Das habe Schröder jedoch nicht getan. "Ich schätze eher Politiker mit Rückgrat", sagte der Ministerpräsident. (…) Der Bundestag hatte gestern mit den Stimmen aller Fraktionen eine Entschließung zum Gedenken an die türkischen Massaker an den Armeniern im Jahr 1915 verabschiedet. In der Resolution selbst ist nicht von "Völkermord" die Rede, wohl aber in der Antragsbegründung. (…) Ankara bestreitet nicht, dass bei Massakern und Zwangsmärschen zwischen 1915 und 1917 zahlreiche Menschen umkamen, spricht aber von den Folgen einer Zwangsumsiedlung, die wegen des Krieges notwendig gewesen sei. Armenien und viele internationale Wissenschaftler gehen dagegen von einem geplanten Völkermord mit bis zu 1,5 Millionen Toten aus. In den vergangenen Jahren hatten die Parlamente mehrerer Länder das Geschehen als Völkermord bezeichnet, darunter die Volksvertretungen in Frankreich und der Schweiz. DER SPIEGEL

Gleichzeitig fiebert die türkische Regierung der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der EU entgegen und Erdogan merkt anscheinend nicht, daß sich die türkische Haltung zu dem Massaker von 1915 langsam zu einem Lackmustest für die türkische Bereitschaft entwickelt hat, Europa auch "innerlich" beizutreten und nicht nur von den wirtschaftlichen Vorteilen profitieren zu wollen, jedenfalls aus zentraleuropäischer Sicht. Anders herum aber wird man Erdogan kaum zu einer Änderung seiner Haltung bewegen können, wenn man ihm trotz jahrzehntelanger gegenteiliger Versprechen jetzt nur noch eine "privilegierte Partnerschaft" statt einer Vollmitgliedschaft anbietet.

Und da Schröder aller Voraussicht nach nicht mehr lange Kanzler sein wird, und Merkel sowieso gegen die Türkei ist, kann Erdogan ruhig auf Ersteren schimpfen. Alles andere wäre wohl innenpolitischer Selbstmord, und eine instabile Türkei können wir nicht auch noch gebrauchen. Insofern ist wirklich fraglich, ob dieser Beschluß des Bundestages so eine kluge Sache war.

Tuesday, June 21, 2005

So langsam scheint es bei den Regierungsparteien angekommen zu sein, daß Kanzler Schröders Ankündigung, die Vertrauensfrage stellen zu wollen, seinen Stellenwert auf der Beliebtheitsskala nicht unbedingt wieder auf alte Höhen bringt. Was bleibt den Sozis also außer der Rückbesinnung auf sozialdemokratische Traditionen, auch wenn von diesen in den letzten sechs Jahren herzlich wenig zu spüren gewesen ist. Insofern überrascht es mich wenig, wenn beide Regierungsparteien passend zum Wahlkampf ein Thema wiederentdecken, daß sie selbst bislang unter dem Stichwort "Neid" als irrelevant abgetan hatten: die Sondersteuer für Spitzenverdiener:

Die SPD will voraussichtlich mit einer "Millionärssteuer" auf Stimmenfang gehen. Die Forderung nach einer Sondersteuer für Reiche soll Presseberichten zufolge ein Baustein im Wahlprogramm der Partei werden. Im Finanzministerium wird bereits gerechnet, wie viel Geld damit in die Kasse kommen könnte. — SPD plant Sondersteuer für Millionäre

Die Grünen wollen mit gezielten Maßnahmen die Lohnnebenkosten senken: Höhere Abgaben für Spitzenverdiener, lautet das Konzept. Die Partei werde das Land "nicht kampflos Schwarz-Gelb" überlassen, sagte Parteichefin Claudia Roth bei der Vorstellung des Wahlprogrammentwurfs. — Grüne wollen höhere Steuern für Reiche

Was ich nur nicht verstehe, ist, warum man darauf bisher nicht gekommen ist. Die Kassen sind doch nun schon wirklich lange genug leer. Wann immer jemand von den Hartz–IV Kritikern eingewandt hatte, daß man doch nicht nur –wie geschehen– die Armen zur Ader lassen dürfe, wurde er mit dem Hinweis, daß eine "Neiddebatte" nichts bringe, niedergeschrien.

Was wir zudem in den Zeiten der Globalisierung brauchen, damit eine solche Steuer überhaupt greifen kann und nicht einen gegenteiligen Effekt erzielt, ist ein Ausbürgerungsrecht, eine Lex Schumacher: wer meint, seine Steuern hier nicht mehr zahlen zu müssen, soll auch seinen deutschen Pass abgeben müssen.

Wie, das geht nach deutschen Recht nicht? Das kann man ändern. Wir dachten auch nicht, daß jemand, der nach vierzig Jahren Arbeit arbeitslos wird, nach einem Jahr der Arbeitslosigkeit mit 345 Euro abgespeist wird. Wenn wir uns diesen Sozialstaat so nicht mehr leisten können, können wir uns Millionäre, die keine oder nur wenig Steuern bezahlen, schon lange nicht mehr leisten.

Tuesday, June 22, 2005

Zum Wahlprogramm der Grünen (aus der DLF–Presseschau ):

Die FRANKFURTER RUNDSCHAU fasst es zusammen: "Den Auftakt bildet eine Litanei der Not: "tiefgreifender Umbruch", "wirtschaftlicher Druck", "Europa in einer Krise", "Erosion der sozialen Sicherungssysteme", "Ausgrenzung", "dramatische Verschuldung", "Kommunen vor dem Bankrott" - alles in einem Absatz. Das ist ebenso ehrlich wie für die Grünen als Basis einer Werbung in eigener Sache prekär. Wer nach so langer Zeit in der Verantwortung so viel zu beklagen hat, klagt auch über eigene Unzulänglichkeit. Das Programm hat den Charakter einer Rechtfertigung und des Gelöbnisses: Das nächste Mal machen wir es bestimmt besser. Wie stehen die Aussichten? Es ist ein Verdienst des Grünen–Manifests, dass es nicht verschweigt, was womöglich die größte Fehlleistung des bisherigen rot—grünen Wirkens darstellt: den skandalösen, wachsenden Abstand zwischen Reich und Arm", notiert die FRANKFURTER RUNDSCHAU.
Das hat mich in den letzten sechs Jahren immer gestört, daß es der Regierung niemals gelungen, diesen Trend umzukehren. Da es unter Merkel kaum anders und eher noch schlimmer werden wird, scheint es letztlich aber egal zu sein, wer regiert, weil sich das Land kaum aus dem Würgegriff der multinationalen Konzerne einerseits und aus dem Korsett der EU–Subventionen für die Landwirtschaft andererseits befreien kann.

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